Vom Wandel der Macht in der Schweiz

Die Machtverhältnisse in der Schweiz ändern sich. Ein paar Gedanken zum Verbänden, Verwaltungen, Boulevard-Medien und Lobbyisten …

Die erste systematische Analyse der Interessenvermittlung in der Schweiz publizierte der damals junge Soziologe Hanspeter Kriesi. Popularisiert wurde die umfangreiche Habilitationsschrift aus dem Jahre 1980 durch den Publizisten Hans Tschäni mit einem Buch unter dem Titel „Wer regiert die Schweiz?“. Damit setzte ein Perspektivenwandel ein, denn nebst der formellen Systemstruktur interessierten jetzt auch informelle Prozesse. Am Bundeshaus entdeckte man, dass es nicht nur Sitz des Parlamentes war, sondern auch die Form eines Theaters hatte. Das war symbolträchtig: Von der Autorität, die Gesetze erlässt, wandelte sich die Politik zur Bühne, die ihre Einflüsterer kennt.

Typisch hierfür war, dass das Schlagwort vom “Filz” aufkam, und sich bis heute gehalten hat. Gemeint war etwa das Gleiche wie das, was die Politologen den liberalen Korporatismus nennen – den systematischen Einbezug relevanter Gesellschaftsgruppen in die staatliche Willensbildung. Kommuniziert wurde nun, dass dieser nebst Vor- auch Nachteile habe. Die kurzen Wege in die Politik seien nicht für alle gleich kurz, denn bevorteilten Organisationen hätten kürzere, ausgeschlossene viel längere, lautete die verbreitete These. Und Tschäni folgerte spitz: “Filzläuse beissen sich nicht!” Gemeint war damit, dass die Haves ihre Vorrechte gegenüber den Not-Haves verteidigen würden.

Kriesis Hierarchie der Einflussreichen von damals findet sich in der nebenstehenden Uebersicht. Typisch daran war, dass vier der fünf top-gesetzten Organisationen Verbände aus der Wirtschaft waren; sie rahmten den Bundesrat ein, der wiederum von den grossen Parteien gefolgt wurde. Dahinter fanden sich die zentralen Vertreter der Volkswirtschaft: die Nationalbank und das hierfür zuständige Departement.

macht
Ergebnisse zweier Expertenbefragung zum Thema, wer Einfluss auf politische Entscheidungen ausübe. Dargestellt sind die Nennung einflussreicher Gruppierung bei wichtigen Entscheidungen.

2013 publizierte der Kriesi Schüler Pascal Sciarini die ersten Erkenntniss aus der Replikationsstudie – eine Polit-Generation später: Wieder gaben zahlreiche Beteiligten und Beobachter von Entscheidungsprozessen Auskunft, doch zeichneten sie ein ganz anderes Bild: An der Spitze figuriert nun die SVP, damals noch gar nicht in den Top-Ten. Dahinter finden sich economiesuisse und Bundesrat praktisch gleich auf. Es folgen die anderen grösseren Regierungsparteien, vor den weiteren Verbänden, wie dem Gewerkschaftsbund und dem Gewerbeverband. Der Bauernverband verschwand ganz aus der Liste. Neu dabei sind aber die Finanzer auf Bundes- und Kantonsebene.

Wenn Kriesi seinerzeit den Höhepunkt des liberalen Korporatismus beschrieb, analysiert Sciarini nun seinen Niedergang. Vielleicht würde das Urteil heute noch härter ausfallen, denn nicht nur organisierte Bauern, Gewerbler und ArbeitnehmerInnen haben an politischem Einfluss verloren, auch der Dachverband der Wirtschaft ist zwischenzeitlich von dieser Entwicklung erfasst worden.

Sciarinis Sichtweise auch den Machtwandel in der Schweizer Politik ist interessant: Denn er diagnostiziert nicht einfach ein Vakuum, sondern zwei Gewinner: die professionalisierte Verwaltung und die boulevardisierte Medienlandschaft. Beide haben Ressoucen entwickelt, im auf ihre Art und Weise die Politik anzutreiben und so Einfluss zu nehmen. Im ersten Fall sind Technokraten am Werk, in Gesundheitsfragen, in Energiefragen, in Verkehrsfragen beispielsweise. Befördert wird das Ganze durch die Europäisierung der Politik, auf Sachentscheidungen aus, demokratisch aber schwach legitimiert. Das ist beim zweiten Treiber genau umgekehrt: Den Boulevard-Medien fehlt es nicht an Feedback-Schlaufen, aber an fachlichem Tiefgang. Politik wird auf das reduziert, was der Medienlogik entspricht. Je nach Partei finden sich mehr oder minder viele PolitikerInnen, die genau in dieses Schema passen. Die Asylpolitik gibt eine gute Plattform an, Migrationsfragen auch, und die Populisten interessieren sich ganz besonders für die Behörden.

Ich finde diese These höchst anregend, bin aber nicht sicher, ob sie vollständig ist. Denn die Lobbyisten bevölkern immer mehr die politischen Entscheidungen. Bisweilen helfen sie, dass man die Technokraten besser versteht; das ist ihr Geschäft unter der Woche. Am Wochenende schieben sie, gemeinsam mit der Sonntagspresse den Populismus an. Entwickelt haben sie sich aus dem Ungenügen der Milizpolitik; denn Lobbyisten funktionieren heute wie alles Berufsleute. Sie haben sich selber Standesregeln gegeben, was man darf und was nicht. Sie haben ihre Arbeit auch professionalisiert. Ihre Waffe ist, nicht einfach punktuell intervenieren, sondern ganze Prozesse steuern, ja, sie auch zu initiieren und das bisweilen für Unternehmen, aber auch für den Staat.

Den Stand dieser Dinge beleuchtet sein dieser Woche ein bemerkenswertes Buch, dass von Insidern geschrieben wurde. “Innen- und Aussenpolitik von Unternehmen” heisst es, im Stämpfli-Verlag ist es erschienen, und verfasst haben es LobbyistInnen und Lobbyierte. Sich auf diese Weise kundig zu machen, was heute Sache ist bei der Politikgestaltung, lohnt sich alle Mal – selbst wenn man kritisch gegenüber den Entwicklungen im Machgefüge steht.

Claude Longchamp