Was es ausmacht, dass Abstimmungskampagnen wirken

Abstimmungsforschung ist in der Schweiz in Bewegung geraten. Immer mehr machen sich junge ForscherInnen auf, die neu entdeckte Dynamik der Meinungsbildung zu erforschen. Cloe Jans, Absolventin des Berner Masters für “Schweizerische und vergleichende Politik” gehört mit ihrer Abschlussarbeit dazu.

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Zu Recht zitiert Politikwissenschafterin Cloé Jans in ihrer Masterarbeit ein (veraltetes) Diktum der politischen Kommunikationsforschung. Denn nach Paul Lazarsfeld haben Kampagnen minimale Effekte, die in Richtung Verstärkerwirkung gehen. Doch das war in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts.

Ganz im Gefolge von Hanspeter Kriesi postuliert Cloé Jans nun zwei neue Kampagneneffekte: die Artikulation und die Konversion. Gemeint sind damit die Ansprache tiefer liegender Schichten von Werten statt oberflächlicher Meinungen respektive der Positionswandel vom Ja ins Nein oder umgekehrt.

Das sehe ich ganz ähnlich. Unser Dispositionsansatz postuliert ganz generell, dass Abstimmungsentscheidungen noch viel mehr als Wahlentscheidungen nicht ein für alle Mal feststehen, sondern aus Abstimmungskämpfen entstehen. Nebst der Verstärkung vorläufiger Stimmabsichten kennen wir den Meinungsaufbau beziehungsweise den Meinungswandel. Wir kennen aber auch Mobilisierungswirkungen, die ich als vierte Möglichkeit von Kampagneneffekten beifüge.

Die taufrische Masterarbeit, begutachtet von Professor Adrian Vatter an der Universität Bern, reiht sich ganz in die Neuausrichtung der Kampagnenforschung für demokratische Entscheidungen im 21. Jahrhundert ein. Die erkenntnisleitende These lautet: Mit moderner politischer Kommunikation kann man Wahl- und Abstimmungsergebnisse verändern.
Konkret untersucht wird, erstens, wie sich Ja- und Nein-Anteile verändern und zweitens, was die Gründe hierfür sind. Ersteres wird aufgrund der SRG-Umfragen geleistet. Zweiteres ist eine systematische Eigenleistung der Autorin. Untersucht wurden insgesamt 35 Volksabstimmungen zwischen 2005 und 2011.

Vorbildlich finde ich die Modellierung der Ursachenklärung, weil sie sowohl auf der Makro- und Mikroebene ansetzt. Vorlagen werden nicht per se beurteilt, sondern im Kontext von Kampagnen(-informationen) einerseits, parteien- und themenspezifischen Prädispositionen anderseits. Daraus resultieren individuelle Abstimmungsentscheidungen der Individuen, die aggregiert das kollektive Abstimmungsresultat liefern.
Die Autorin teilt Kampagnen in der Folge in earned and paid media ein, ferner in die Grösse der Koalitionen, die auf beiden Seiten dahinter stehen. Kontrolliert wird dies einerseits aufgrund der Komplexität einer Vorlage, anderseits aufgrund der Relevanz. Letzteres sind die bekannten Daten aus der VOX, derweil ersteres sich auf den Parolenspiegel stützt, Werbedaten und eine eigene Medienanalyse. Die hat die Forscherin basierend auf zwei Elitemedien (NZZ, Le Temps), zwei aus der Regionalpresse (TdG und Tagesanzeiger) und zwei Boulevardblättern (Le Matin und Blick) eigenhändig erstellt.

Die Arbeit listet zunächst die deskriptiven Resultate auf. Nicht alles ist neu, einzigartig sind aber die beschreibenden Resultate der Medieninhaltsanalyse. Diese zeigen, dass sich positive, negative und neutrale Berichterstattungen in etwa die Waage halten. Im Kampagnenverlauf ist die neutrale Berichterstattung recht konstant, derweil der Anteil der positiven und ganz besonders der negativen Berichterstattung von der 6. bis 2. Woche vor der Abstimmung klar zunimmt. Intensitäten und Ausprägungen hängen aber vom Vorlagetypen ab. Obligatorische Referenden erreichen am wenigsten Medienaufmerksamkeiten und wenn vor allem eine positive. Direkte Gegenvorschläge interessieren vor allem zu Kampagnenbeginn, ohne dass sie die Debatte auf die Dauer befeuern. Fakultative Referenden und Volksinitiativen ihrerseits interessieren klar mehr, mit einer Tendenz für mehr Berichte aus der Sicht des Behördenstandpunktes. Schliesslich kennen einfache Vorlagen mehr Medienberichte als komplexe, während der Zusammenhang mit der Relevanz erwartungsgemäss variiert.

Ich erwähne dies ausführlich, weil das so systematisch bisher nie belegt wurde, auch nicht durch die fög Fallstudien. Indes, die Autorin ist ab der geleisteten Vorarbeit enttäuscht, denn ihre Hypothesen zur Medienberichterstattung auf die Meinungsbildung müssen allesamt revidiert werden.

Hierfür hat Cloé Jans sauber dokumentiert 12 Modelle gerechnet, alle mit unterschiedlichen Ausgangslagen, nicht aber mit verschiedenen Ergebnissen. Diese können in ihrer Summe wie folgt zusammengefasst werden:

Erstens, die Grösse der Koalitionen hat einen Einfluss auf die Veränderungen im Ja- wie Nein-Anteil. Zwar sichert das den Abstimmungsausgang nicht zwingend, aber es beeinflusst die Richtung der Meinungsbildung systematisch. Zudem gilt, je kleiner die Einigkeit in der Befürworter-Koalition ist, desto mehr nehmen nicht die Ja-Stimmen, sondern die Nein-Stimmen zu.
Zweitens, die finanziellen Mittel der Gegner einer Vorlage haben einen systematischen Einfluss auf die Veränderung der Stimmabsichten, nicht aber jene der Befürworter. Spricht mehr Geld der Gegner bringt eine Zunahme der Ablehnung, während mehr Finanzen der Ja-Seite keinen zwingenden Einfluss auf die Ja-Anteile haben.
Drittens, die Komplexität einer Vorlage hat zwar einen Einfluss auf die Veränderung der Stimmenanteile, doch ist der nicht robust. Das gilt analog für die Relevanz. Die Nein-Anteile steigen vor allem bei Vorlagen, die aus BürgerInnen-Sicht irrelevant sind.

Die Autorin belässt es nicht bei diesen Basismodellen, denn sie kalkulierte auch die Interaktionen zwischen Erklärungsvariablen ein. So variiert der Einfluss der finanziellen Mittel mit der Komplexität einer Vorlage. Der Zusammenhang von aufgewendeten Mitteln ist bei komplexen Vorlagen klarer gegeben als bei einfachen. Das gilt auch für die Geschlossenheit von Koalitionen. Abweichungen davon haben vor allem dann eine Folge, wenn eine Vorlage vielschichtig ist.

Formuliert wird damit ein einfaches Modell zu Kampagnenwirkungen. Das ist ein erster Schritt, dem bald möglichst weitere folgen sollten. Denn das Modell ist geeignet, auf geprüfter Basis einfache Annahmen schon vor einer Abstimmung zu treffen. Der Parolenspiegel einerseits, die wichtigen Kampagnenaktivitäten andererseits sind die wichtigsten Einflussgrössen. Liegen einmal mehr untersuchte Fälle vor, wird man auch nach Rechtsform der Vorlage unterscheiden oder weitere Erklärungsgrössen identifizieren können. Vorerst bleibt, dass die Relevanz des Themas und die Komplexität der Vorlage zusätzliche Anhaltspunkte liefern. Geeignet sind diese Hinweise, um die Entwicklung in typischen Fällen vorherzusehen. Atypische, wie jüngst die Masseneinwanderungsinitiative wird man damit nicht erklären können.

Schnelle Fortschritte sind zu erwarten, wenn eine Auswertung der 35 bisherigen Fälle mit der besten Regression und Interaktion vorgenommen wird, die zeigt, wie die Retrognose, die nachträgliche Prognose also, ausfällt. Denn der Vergleich dieser Schätzung mit dem Endergebnis zeigt, welche Fälle wie gut erklärt werden können. Dort, wo das wenig vorteilhaft ausfällt, sind neue Arbeitshypothesen angezeigt, wohl qualitativer Natur, was inskünftig auch zu erforschen sein wird.

Vielleicht löst sich dann auch der überraschendste Befund der Arbeit auf. Denn die Medienwirkung muss wohl feiner untersucht werden. Die für mich plausibelste Hypothese ist, dass sie vor allem dann wirkt, wenn der Tenor eindeutig ist. Denn dann ist zu erwarten, dass sich namentlich unschlüssige BürgerInnen an der Medienmeinung auszurichten beginnen.

Das alles sei nicht gesagt, um die Arbeit schlecht zu reden. Vielmehr soll es aufzeigen, dass wir erstmals aufgrund gesicherter Basis in der Lage sind, spezifische Arbeitshypothesen zu entwickeln. Möglich wird dies, weil die Autorin mit der aufgespannten Systematik den Benchmark der Forschung zu Kampagnenwirkungen bei Schweizer Volksabstimmung aufzeigt. Die Datenbasis ist die beste, die ich kenne, und die Datenanalysen sind mit Umsicht gemacht, kurz und knapp interpretiert. Vielleicht, füge ich bei, hätte die Arbeit ein ausgebauteres Fazit verdient. Hier fehlt leider eine systematische Übersicht der bestätigten, modifizierten und widerlegten Hypothesen (um sich dann im Anhang unkommentiert wiederzufinden) und der Bezug zur einleitend zitierten Theorie der Kampagnenforschung ging wohl aus Zeitgründen weitgehend vergessen.

Für mich ist gerade nach der Lektüre der Masterarbeit von Cloé Jans gut belegt, dass die Abstimmungsforschung längst über Paul Lazarsfelds Erkenntnisse hinaus ist. Verstärkt werden vorhandene Stimmabsichten auf alle Fälle. Die Gründe dafür können auch darin liegen, dass tiefer liegende Werthaltungen artikuliert werden. Diese haben aber auch das Potenzial, flüchtige Meinungen zu verändern. Konversion, wie sie hier gemessen wurde, kommt auf jeden Fall vor, als Folge der Willensbildung in Referenzparteien und verursacht durch Kampagnenmittel. Das alles ist vor allem dann zu erwarten, wenn Vorlagen alltagsfern und nur mit Informationsverarbeitung zu bewältigen sind. Nicht ausgelassen werden sollte gerade in der Schweiz auch die Veränderung von kollektiven Stimmabsichten alleine durch eine Veränderung der Beteiligung.

Ich freue mich, dass die Autorin neu unsere Mitarbeiterin ist, denn sie wird die künftige Systematik der Abstimmungsumfragen für die SRG mit ihren Erkenntnissen zu Ursachen von Veränderungen mit Sicherheit bereichern.

Claude Longchamp