Kurzanalyse der Wahlen 2014 in der Stadt Zürich

Gestern habe ich meine Vorlesung im Frühlingssemester an der Uni Zürich zu “Wahlforschung in Theorie und Praxis” mit einer Kurzanalyse der vergangenen Stadtzürcher Wahlen eröffnet. Hier meine Kernaussagen.

“Lagerwahlkampf” war das Stichwort der bürgerlichen Herausforderer bei den Stadt Zürcher Wahlen. Vorbilder waren die jüngsten kantonalen Wahlen in Baselland und Freiburg, wo Mitte/Rechts-Allianzen mögliche rotgrüne Mehrheiten stoppten. Seinen konkreten Ausdruck fand der Lagerwahlkampf in einer gemeinsame Liste von SVP, FDP und CVP für den Stadtrat – “Top 5” genannt. Dahinter standen die Wirtschaftsverbände, die den bürgerlichen Wahlkampf koordinierten und mitfinanzierten. Ihr 6-Punkte-Programm forderte eine Wende zu einer wirtschaftsfreundlichen Staatpolitik.

Politologe Daniel Bochsel formulierte vergangenes Jahre die Strategie für einen Lagerwahlkampf. Majorzwahlen werden, schrieb er am 24. September in der NZZ, durch Allianzbildungen entschieden. Links würden sie regelmässig funktioneren, rechts indessen nicht. Die Wahl von Richard Wolff von der Alternativen Liste habe die Situation jedoch verändert, denn der marxistisch ausgerichtete Vertreter der Alternativen Liste werde als Spaltpilz des rotgrünen Lagers wirken. In Gefahr sei inbesondere ein Sitz der übermässig vertretenen SP. Drei Vorgehensweisen empfahl er dem bürgerlichen Lager:
. Die FDP solle den SVP-affinsten Kandidaten als Herausforderer für das Stadtpräsidium nominieren – konkret Nationalrat Filippo Leutenegger
. Die Bürgerilchen sollten mit einer gemeinsamen 5er-Liste kandideren, was einen Verzicht der FDP auf eine dritte (resp. Frauen-)Kandidatur bedinge.
. Die SVP wiederum müsste Bewerbungen aufstellen, die von FDP- und CVP-Wählende unterstützt werden könnten.
“In diesem Szenario könnten die Bürgerlichen nicht nur den im Frühjahr verlorenen Sitz zurückgewinnen, sondern womöglich gleich die Regierungsmehrheit erobern”, folgerte der Kollege.

ergebnisse
Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Nun, wir wissen es: Es kam anders! Gewählte wurden sechs VertreterInnen der rotgrünen und drei des bürgerlichen Lagers. In meiner gestrigen Vorlesung am Institut für Politikwissenschaft habe ich begründet, warum Lagerwahlkämpfe zwar eine sinnvoll, aber nicht zwingend erfolgreiche Vorgehensweise sind, um eine politische Wende herbei zu führen. Hier meine vier wichtigsten Argumente:

Erstens, das Konzept der Lagerwahlkämpfe ist auf das deutsche Parteiensystem ausgerichtet. Formuliert wurde es in den 80er Jahren, von Heiner Geissler, dem damaligen Generalsekretär der CDU. Gemeint war, dass es mit dem Aufkommen der Grünen vier Parteien geben werden, zwei rechte und zwei linke. Nicht der Sieg einer Partei sei entscheidend, sondern die Mehrheit des Lagers werde massgeblich. Mit Lagerwahlkampf meinte er, Angriffe der CDU/CSU auf die FDP würden nichts bringen, denn Stimmenwechsel im Lager seien ein Nullsummenspiel. Entscheidend sei, dass unschlüssige WählerInnen nicht den linken, sondern rechten Block wählen würden. Das Schema lässt sich sehr wohl auf die Schweiz übertragen, doch vor dem Hintergrund eines viel fragmentierteren Parteiensystem wirkt es nicht automatisch.
Zweitens, namentlich in den grossen Schweizer Städten funktionieren Lagerwahlkämpfe nur beschränkt, denn die politischen Gemeinsamkeit zwischen SVP und CVP sind gering. Hintergrund ist die Spaltung des bürgerlichen Lagers im Gefolge des Oppositionskurses der SVP unter Einfluss der Politik von Christoph Blocher in den 90er Jahren. Mit dem Verlust des 2. Bundesratsmandates ist die CVP in die Mitte gerückt, und eine sozialliberal ausgerichtete Regierungspartei geworden. Im aktuellen Wahlkampf kam das am besten zum Ausdruck, dass die CVP der Stadt Zürich Filippo Leutenegger als Stadtpräsidentskandidat nicht unterstützte und bei dieser Wahl Stimmfreigabe beschloss.
Drittens, bei Volksabstimmungen hat sich die Stadt Zürich in den vergangene Jahren nicht nach rechts bewegt. Vielmehr verfolgt die Mehrheit der StimmbürgerInnen einen noch akzentuierteren linksliberalen Kurs. Ein verbreitetes, inhaltlich begründeten Wendemoment gibt es in der grössten Schweizer Stadt nicht. Dafür sprachen auch die Trends bei der letzten Stadtratswahl: Aus dem bürgerlichen Lager legte einzig die FDP 2010 leicht an Wählendenstärke zu, derweil die CVP und SVP leichte Verluste hinnehmen mussten. Neu aufgemischt wurde 2010 die Stadtzüricher Parteienlandschaft in der Mitte, namentlich durch die Formierung der GLP, die für enttäuschte WählerInnen von FDP, SP und GPS attraktiv war. Doch die GLP ging eigene Wege, liess sich in keinen Block einbinden.
Viertens, hinter dem 6-Punkte-Programm der gemeinsamen bürgerlichen Liste wurde klar, dass es zwischen Gerold Lauber und Roland Scheck erhebliche Unterschiede in der Position habe. Wie Thürler auch, politisiert Lauber leicht links seiner zur Mitte neigenden Partei. Eine klar alternative Position hierzu nahmen die drei anderen Bewerbungen ein. Die innere Kohärenz zwischen Bisherigen und Neuen fiel damit gering aus, was der Glaubwürdigkeit nicht förderlich war.

szenarien
Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Meine These bei Majorzwahlen ist differenzierter als jene von Daniel Bochsler. Sie berücksichtigt drei in der Schweiz wichtigere Eigenheiten des Wahlverhaltens in Majorzwahlen:

Einmal, bis wir bisherige Regierungsmitglieder abwählen, müssen sie erhebliche Fehler gemacht habe. Ansonsten beflügelt der Bisherigen-Bonus ihre Wiederwahl.
Sodann, wenn Bisherige zurücktreten haben die KandidatInnen deren Partei, die grössten Wahlchancen, solange ihre Parteien keinen erheblichen Fehler gemacht haben.
Schliesslich, in Exekutiven werden Persönlichkeiten gewählt, die über einen breiten Bekanntheitsgrad verfügen, resp. sich durch die politische Arbeit einen überparteiliche Anerkennung erarbeitet haben.
An vierter Stelle erst rangiert bei mir die Bildung einer mehrheitsfähigen Allianz, so wie sie das Konzept des Lagerwahlkampfes formuliert.

Mit anderen Worten: Wahlresultate bei Exekutivwahlen sind weniger schematisch als es Ueberlegungen aufgrund von Allianzbildungen nahelegen: Die Auseinandersetzungen zu Wahlen ins Präsidium prägen die Wahlchancen mit, ebenso die Persönlichkeit der Kandidierenden.
“Top5” hatte gerade da Schwächen: Beide SVP-KandidatInnen hatten zu wenig überparteiliche Ausstrahlung. Die kam nur Filippe Leutenegger zu. Für den Gemeinderat reichte das, fürs Stadtpräsidium nicht. Quereinsteiger ohne Exekutiverfahrungen haben es schwer, auf Anhieb eine Regierung übernehmen zu können.
Auf rotgrüner Seite waren die Schwächen geringer. Sicher, Richard Wolff exponierte sich im Wahlkampf mit ungeschickten Aussagen erheblich. Das zeigte handwerkliche Unerfahrenheit im Wahlkampf; Fehlleistungen im Amt blieben aber weitgehend aus. Die Grünen riskierten namentlich mit ihrer Nomination von zwei Männern viel, denn die Mehrheit der Wählenden ist weiblich und hätte für die zurücktretende Ruth Genner eine Frau als Nachfolge stärker unterstützt. Schliesslich die SP: Sie musste vor allem wegen ihren Neulings, Raphael Golta zittern; im Wahlkampf machte er aber keine Fehler, was seine Ticketwahl sicherte.

Beobachtet haben ich das alles aufgrund von 5 Szenarien, die vor dem Wahlkampf alternativ zum Konzept des Lagerwahlkampfes aufgestellt hatte. Der FDP der Stadt Zürich habe ich die Quintessenz an ihrem Dreikönigstreffen vom 13. Janaur 2014 vorgestellt. 6:3 sei das wahrscheinlichste Szenario, wobei die FDP ihren zweiten Sitz zurückerhalte, ohne sicher zu sein auf wessen Kosten der Sitzgewinne gehe Und die Stadt Zürich berhalte ihre Präsidentin, waren meine Schlussfolgerungen.

Claude Longchamp