Von wegen Dichtestress

Die Entscheidung ist gefallen: Volk und Stände haben die SVP-Initiative “Gegen Masseneinwanderung” angenommen. Das Ständmehr war klar, 14,5 Kantone waren dafür. Das Volksmehr war knapp, 50,3 Prozent betrug der Ja-Anteil. Die Stimmbeteiligung war überdurchschnittlich. Sie lag bei 56 Prozent. Doch was kennzeichnet Befürworter- und GegnerInnen?

BgGQVk8CEAAXFQa
Quelle: BfS

Drei Fehlannahmen

In den ersten Kommentaren war von Dichtestress als Ursache für das Ja die Rede. Nur, stimmt diese Begründung. Unsere Analyse lässt Zweifel aufkommen. Denn je dichter die Bevölkerung in einem Kanton oder Bezirk zusammenlebt, desto geriner war die Zustimmung zur SVP-Initiative. Ueber dem Mittel war sie, wo die Bevölkerungsdichte gering ist.

immi
Quelle: @GrandjeanMartin

Auch eine zweite Vermutung, die man häufig hören konnte, trifft nicht zu: Die Zustimmung korreliert zwar mit dem Ausländeranteil, aber nicht positiv, sondern negativ. Es gilt: Je höher der Ausländeranteil ist, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit einer Ablehnung der Initiative “Gegen Masseneinwanderung”. Einzig im Tessin gibt es Hinweie für den erwarteten Zusammenhang.

Eine gewisse Erklärungskraft kommt dem Bevölkerungswachstum zu. Doch auch hier sind die Zusammenhänge negativ. In jenen Gebieten, die in den letzten 10 Jahren mehr als im Mittel gewachsen sind, bleibt die Zustimmung unterdurchschnittlich. Über dem Mittel ist sie in wachstumsschwachen Gebieten ausgefallen.

Es mag sein, dass mit der Kampagne Gefühle entstanden oder artikuliert worden sind. “Dichtestress” oder “Überfremdung” sind letzlich subjektive Faktoren, geprägt von kulturellen Selbstverständnissen. Je nachdem reagiert man auf vergleichbare Verhältnisse ganz anders. Eine brauchbare Analyse des Abstimmungsverhaltens ergibt das nicht.

Erstens, Urbanisierungsgrad

Alle drei überraschenden Ergebnisse unserer Analyse haben mit der effektiv wichtigsten räumlichen Erklärungsgrösse dieser Abstimmung zu tun: dem Urbanisierungsgrad. Je höher dieser in einem Kanton oder einem Bezirk ist, desto grösser war die Opposition gegen die Vorlage. Auch hier kann man es umgekehrt formulieren: Je weniger Menschen in einem Kanton oder in einen Bezirk im urbanen Umfeld leben, desto günstiger ist das Resultat für die SVP-Initiative.

tabellezuwanderng
Grafik anclicken, um sie zu vergrössern.
Quelle: gfs.bern

Wie eine Übersicht des Bundesamtes für Statistik zeigt, die heute vorgelegt worden ist, wächst der Stadt-/Land-Gegensatz in Europa-Fragen wieder. Am geringsten war er 2009, bei der definitiven Einführung der Personenfreizügigkeit. An den Rekordwert, bei der EWR-Entscheidung 1992 ermittelt, kommt er aber nicht heran.

Das Typische an der aktuellen Situation ist nicht, dass sich Zentrumsgemeinden und Landgebiete stark unterschieden. Vielmehr sind die Agglomerationen und die isolierten Städte nicht mehr den Zentren nöher, dafür dem Land. Auch sie haben im Mittel für die Initiative gestimmt. Und genau das hat den Umschwung der Mehrheiten bewirkt.

Zweitens, Sprachregionen

Gewachsen ist auch der Rösti-Graben. Mitte der Nuller-Jahre des 21. Jahrhunderts war er in der Europa-Frage fast verschwunden, am 9. Februar 2014 klaffte er erneut auf. Auch hier gilt allerdings, das Ausmass bleibt geringer als bei der EWR-Entscheidung.

In der italienischsprachigen Schweiz finden sich die oben beschriebenen Unterschiede nicht, denn der Konsens gegen die Personenfreizügigkeit ist hier gesellschaftlich und politisch sehr hoch. Die Gräben zeigen sich dagegen in der Romandie und in der deutschsprachigen Schweiz klarer. In der deutschsprachigen Schweiz ist, anders als in der Romandie, der namentlich Urbanisierungsgrad von Belang. Denn die Romands waren gegen die Initiative, ob sie auf dem Land, in Agglomerationen oder in einem Zentrum leben.

Drittens, Politlandschaften

Die Zustimmung zur Initiative hing in erster Linie vom Anteil SVP-Wählender ab. Grösser ist die Ablehnung vor allem dort, wo die Linke stark ist, namentlich auch die GPS. In CVP- und FDP-Gebieten fällt das Ergebnis insgesamt recht nahe dem nationalen Mittel aus. Das spricht für regional vorhandene Ausstrahlungseffekte der SVP auf andere Parteiwählerschaften.

Ganz anders die Lage in den urbanisierten Gebieten. Je linker sie sind, desto stärker war das Nein zur Zuwanderungsinitiative. Das gilt auch für die übrigen Gebiete, ausser den ländlichen. Dort gibt es keine verstärkte Ablehnung, wo die SP stärker ist.

Damit versteckt sich ein Rechts-/Links-Gegensatz hinter Zustimmung und Ablehnung der Initiative gegen Masseneinwanderung.

Aktuelle Veränderungen

Wenn man die Veränderungen in der Ablehnung der Personenfreizügigkeit seit 2009 betrachtet, differieren die Ergebnisse. Dies hat zwei Gründe: Zunächst hat sich die Kritik an offenen Grenzen dort stärker als sonst vermehrt, wo die SVP besonders stark ist.

Das findet sich teilweise auch in den in Gebieten mit überdurchschnittlichem Brutto-Inlandsprodukt pro Kopf. Gerade hier bricht einiges um. Die Personenfreizügigkeit verliert an Support.

Vorläufige Bilanz

Die bisherigen Entscheidungen zu den Bilateralen sind immer positiv ausgegangen. Sie wurden im Geiste der liberalen Öffnung entschieden. Eine Allianz aus Bundesrat, Regierungsparteien und Sozialpartnern hat der scwheizerischen Europa-Politik zum Durchbruch verholfen.

Erstmals sind die Mehrheiten nun umgekehrt. Gesiegt hat der Konservatismus, entstanden in der SVP. Nun ist er, nach Minarett und Ausschaffung auch bei der Personenfreizügigkeit, mehrheitsfähig geworden.

Claude Longchamp