Entscheidungsunsicherheit ernst nehmen

Seit Samstag kennt die Debatte ueber die Volksinitiative gegen Masseneinwanderung einen neuen Term – den Minarett-Effekt. Ich zweifle, dass er Sinn macht, und begruende es, in Ruhe gerne.

Gepraegt hat den M-Effekt der Tagesanzeiger am letzten Samstag, veranlasst durch FDP-Praesident Philipp Mueller. Tags darauf doppelte Bundesrat Johann Schneider-Ammann im Sonntagsblick nach. Denn Exponenten der freisinnige Partei befuerchten, die Befragten, insbesondere ihrer Partei, koennten anders stimmen, als sie es in der Umfrage bekundeten.

Nun sind Unterschiede zwischen Ja/Nein-Anteilen und Ergebnissen durchaus moeglich. Laengst nicht alle sind aber eine Folge von Falschangaben. Vielmehr kennt die Umfrageforschung verschiedene Ursachen. Die bei weitem haeufigste ist, dass sich die Meinungen entwickeln – aus Unentschiedenen warden Entschiedene, aus Vorentschiedenen im Ja oder Nein warden Entschiedene in umgekehrter Richtung, und aus Nicht-Teilnahmewilligen warden Teilnehmende. All das aendert die Ergebnisse in Umfragen ueber die Zeit. In der Schweiz ist dies besonders bedeutsam, weil die letzten Umfragen rund 15 Tage vor dem Abstimmungstag gemacht warden muessen, denn in den letzten 10 Tagen sind Veroeffetnlichungen nicht mehr zulaessig. Was danach geschieht, Weiss letztlich niemand.
Mit anderen Worten: Nichts spricht an sich dagegen, dass der Ja-Anteil zur Volksinitiative gegen Masseneinwanderung nicht steigt, auch wenn niemand eine Falschangabe gemacht warden kann.

Dass diese Interpretation mit hoher Regelmaessigkeit bei Auslaenderfragen auftaucht, hat mit einer Erkenntnis der Psychologie zu tun. Die konnte im Experiment nachweisen, dass im Antwortverhalten soziale Erwuenschtheit existiere. Namentlich dann, wenn in (Klein)Gruppen vorherrschende Meinung existierten, sei es fuer Mitglieder mit abweichender Meinung erschwert, dazu stehen, denn Non-Konformitaet in Gruppen, zu denen man gehoeren will, ist schwieriger zu begruenden als Konformitaet.

In Umfragen zu Einstellungsfragen ist es gelegentlich gelungen, soziale Erwuenschtheit zu belegen. In Abstimmungsumfragen blieb die Wissenschaft den Beleg bisher schuldig. Genauso die Expertenanalysen zu den Minarett-Umfragen Umfragen, die soziale Erwuenschtheit im Antwortverhalten an sich nicht ausschlossen, ein Mass fuer das allfaellige Auftreten aber nicht gefunden haben. Entsprechend gibt es bis heute keine gesicherten Korrekturfaktoren.
Vielleicht ist das auch nicht so schlimm, denn soziale Erwuenschtheit ist beim Abstimmungsumfragen genau dann zu erwarten, wenn es sich um neue, tabuisierte Themen handelt, bei denen zwischen Eliten und Basis Differenzen bestehen, die durch Massenmedien nicht aufgenommen warden. Das mag bei der Minarett/Entscheidung noch so gewesen sein, befeuert durch das Plakatverbot, das Basels Administration gegen die Ja-Werbung verhaengte und in den Staedten Schule machte. Davon sind wir im aktuellen Fall indes weit entfernt.

Vielleicht liegt der Grund fuer den denkbaren Meinungswandel in den folgenden Wochen auch ganz anders. Denn eines der Gutachten zur Minarett/Umfrage legte den Blick auf ein hauefig uebersehenes Phaenomen, wonach Entscheidungsambivalenz in den Umfrageantworten stecke: Vor allem dann, wenn BuergerInnen bei Entscheidungen im Dilemma steckten, koenne es gut sein, dass sie in ihren Entschluessen schwankten, lautete die Feststellung. Zwar seien finalen Entscheidungen der Stimmenden gut begruendet, doch die Begruendungen veraenderten sich mit der Zeit.
Nun zeigt die Umfrage zur Volksintitiative gegen Masseneinanderung genau solche Entscheidungsambivalenzen. Denn die Folgen der Personenfreizuegigkeit sprechen eher fuer die InitiantInnen, derweil die Folge einer Annahme der Initiative fuer die gleichen Befragen eher dagegen wirken. Das ist, einfach gesagt, ein typisches Dilemma: Soll man Ja am 9. Februar 2014 sagen und die Bilateralen riskieren? Oder Nein stimmen, und verpassen, ein wirksames Zeichen fuer das bestehende Unbehagen zu setzen? Das Phaenomen ist nicht unerheblich, denn rund ein Viertel der Befragten kennt eine solche Entscheidungsambivalenz.

Ohne solche Phaenomene, oder bei nur geringer Auspraegung, folgt die Meinungsbildung zu Volksinitiativen einer einfachen Regel: Anfaengliche Symapthien fuer die Initiative, weil sie ein Thema aufgreift, warden durch zunehmende Einwaende gegen Inhalt und Folgen verringert; es waechst der Zustimmungwert von Woche zu Woche, und es kann auch der Zustimmungswert sinken. Eine Ablehnung am Abstimmungstag ist die Folge, selbst wenn anfaengliche Zustimmungsmehrheiten existierten.Im konkreten Fall spraeche das fuer ein Nein.
Mit Phaenomenen der Entscheidungsambivalenz wird die Regel zusehends unsicherer. Es kann sogar sein, dass die Zustimmung zur besagten Initiative waechst, denn der Mechanismus ist bekannt: Die Ambivalenz wird aufgeloest, indem man sich fuer eine der denkbaren Begruendungen entscheidet, oder noch haeufiger, gegen eine: Konkret, Schwankende die Ja sagen werden, finden, die Drohung der EU, die Bilaterale aufzukuendigen, sei kein hinreichender Grund, gegen die Initiative zu stimmen, und solche, die Nein sagen werden, finden, hier ein Zeichen zu setzen, dass auch die SVP staerke, sei unwuerdig.

Nun weiss die Demnoskopie nicht, was bei wem am Ende ueberwiegt, denn es sind nicht nur individuelle Entscheidungen. Sie folgen auch der allgemeinen Debatte, befeuert durch Kampagnen und Medien. Entsprechend war durchaus richtig, bei der Praesentation der ersten vertieften Umfrageergebnisse zu den Stimmabsichten am letzten Freitag in Sachen Volksentscheidung bei der Personenfreizuegigkeit zurueckhaltend zu sein.
Haetten wir das nicht gemacht, kaeme es zwischen unterstellter Prognose und Ergebnisse am Abstimmungstag allenfalls zu einer Diskrepanz, mit der erneuten Deutung, die Leute antworteten in Umfragen nicht ehrlich. Dabei ist genau Gegenteiliges der Fall> Sie antworten viel ehrlicher als politische Heisssporne verstehen. Statt Entscheidungssicherheit vorzutaeuschen, bekennen sie sich, in einem Dilemma zu stecken.

Ich mache den besagten FDP Exponenten einen Vorschlag: Wir machen (weiterhin) gute Umfragen, und die Partei und ihre Bundesraete machen (weiterhin) gute Kampagnen. Dann gibt es bei fuer beide keine unliebsamen Ueberraschungen.

Claude Longchamp

PS: Bin gerade in Tschechien, meine Tastatur hat keine ae, oe und ues, weshalb ich sie mit ae, oe und ue ersetzen muss. Sorry.