Neue Parteien, neue Werte, neues Regierungssystem?

1983 veröffentlichten Erich Gruner und Hanspeter Hertig das Buch „Der Stimmbürger und die neue Politik“. Eine epochale Wende sahen sie auf die Schweizer Politik zukommen. Im Rückblick auf die 30 Jahre seither werden drei Veränderungen sichtbar.

Erstens, die Veränderung der Parteienlandschaft.
1983 wurden erstmals Grüne in den Nationalrat gewählt. Nach vier weiteren Jahren machte ihr die Autopartei Konkurrenz. Genau Gegenteiliges vor Augen, politisierten beide Parlamentsneulinge unkonventionell.

Nach ihrer Wahlniederlage 1987 reagierte die SP auf die grüne Herausforderung; seither bilden beide Parteien den linken Pol der Schweizer Politlandschaft. Auf der rechten Seite ging die Freiheitspartei, seit 1994 Nachfolgerin der Autopartei, weitgehend in der neuen SVP auf.

Dabei sollte es nicht bleiben: Bis 2003 wuchsen der rechte wie der linke Pol bei Wahlen und spalteten die Schweizer Politik wie nie unter Konkordanz-Bedingungen. Dabei gingen FDP und CVP ihrer einstigen Vormachtstellung aus der bürgerlichen Mitte heraus verlustig, was sie im Nationalrat von weiteren Partnern abhängig macht.

Erst 2007 wurde der Aufstieg der SP gestoppt; 2011 traf es auch die GPS und die SVP. Parteiabtrünnige, neu in der GLP und BDP vereint, mobilisieren Unzufriedene mit den etablierten Parteien und mischen seither die zerbrochene Mitte auf: Zu neuen Allianzen bereit, brechen sie zementierte Mehrheiten wie in der die Energie- oder Bankenpolitik auf. Die Schweizer Politik ist volatiler geworden.

Zweitens, die Veränderung der politischen Werte.
Zu typisch schweizerischen Werten wie Neutralität, Unabhängigkeit, aber auch Mässigung und Pragmatismus sind der Post-Materialismus und der Neo-Nationalismus hinzugekommen. Ersterer brachte vor dem Hintergrund des ökonomischen Erfolgs ökologische Politik in die Behörden, Selbstentfaltung vor allem von Frauen in Gesellschaft und Politik, und wirkt sich heute mit
Nachhaltigkeitsgeboten bis tief in die Wirtschaft aus.

Der neue Nationalismus konstituierte sich als Reaktion auf die Oeffnung gegenüber der EU. Vor allem die von Volk und Ständen abgelehnten EWR-Verträge 1992 liess den Widerstand der Urschweiz erwachen, angefeuert durch populistische Politiker, die isolationistisch ausgerichtet, selbst gutschweizerische Institutionen verhöhnen, um ihren Unmut auszudrücken. Eine bisweilen herftig ausbrechende, neue Leidenschaft hat die Schweizer Oeffentlichkeit erfasst.

Zwar setzten sich die öffnungswilligen Behörden bei der UNO-Abstimmung 2002 und bei den Volksentscheidungen zu den Bilateralen zwischen 2000 und 2009 immer durch; doch müssen sie dies angesichts mehrheitlicher Vorlieben für restriktive Asylpolitik Mal für Mal hart erkämpfen. Denn die Schweiz ist nach einer progressiven Phase in den 90er Jahren zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder konservativer geworden.

Drittens, die Veränderungen des Regierungssystems.
Vom Musterbeispiel für Konkordanz hat sich die Schweiz einiges entfernt. Unverrückbar ist nur der Föderalismus, revitalisiert wurde die Politik via Volksrechte, problematisch geworden ist dagegen Kollegialsystem. Nach den turbulenten Bundesratswahlen 2003 und 2007 gilt, dass wir mit und ohne Volkswahlen Regierungen haben, die mehr Parteien und WählerInnen als nötig zählen; allerdings blieb die proportionale Vertretung der Parteien auf der Strecke.

Parallel dazu ist der Konsens klein, die Kompromisssuche gar zur Ausnahme geworden; vorherrschend geworden ist der Konfliktstil, selbst die Dominanz parlamentarischer Mehrheiten gehört zum heutigen Normalfall. Das alles hat einen Hauptgrund: die Verbände, die einst in der vorparlamentarischen Phase künftige Regierungspolitik vermittelten, haben an Macht eingebüsst, seit auch sie vermehrt der schweizerischen, europäischen und globalen Oeffentlichkeit Red und Antwort stehen müssen.

Das hat Platz für zwei aufstrebende Akteure Platz geschaffen: zunächst für die Verwaltung, die eine Art Politik ohne PolitikerInnen betreibt, welche die Schweiz pragmatisch europäisiert und die Exekutivpolitik beeinflusst, demokratisch aber schwach legitimiert ist; sodann für die Massenmedien, die den Marktgesetzen ausgesetzt staatskritisch geworden sind, politisch aber den Takt aus oppositioneller Warte vorgeben. Wo sie parlamentarische Politik mediengerecht inszenieren können, gehören sie selbst bei Volksabstimmung bisweilen zu den Gewinnern der direkten Demokratie.

Stärken und Schwächen sind sichtbar geworden.
Bei all dem ist die Schweiz in den letzten drei Dekaden nicht untergegangen. Ihre Leistungen in Wirtschaft sind unverändert Weltspitze! Dennoch, ausserordentlichen Herausforderungen auf globalem und europäischem Parkett ist das schweizerische Regierungssystem trotz neuen Staatssekretariaten nicht gewachsen. Und die mit neuen Medien ausgestattete Zivilgesellschaft mischt sich mittels Volksinitiativen immer munterer in die Regierungspolitik ein, ohne von dieser bisher angemessene Antworten zu erhalten.

Wahrlich, der vor 30 Jahren angekündigte Wertewandel hat mehr verändert, als es Politologen von damals prophezeiten.

Claude Longchamp