Vermessenes Unbehagen (und seine Analyse) in und mit der Schweiz

Probleme mit administrativen Kontrollen, mit Entfremdungen in der eigenen Heimat, mit Zersiedelung der Landschaften und mit Eliten in Unternehmungen bieten auch heute Alass für Unbehagen im Kleinstaat Schweiz, wie Karl Schmid die Stimmungslage in seinem Buch vor genau 50 Jahren nannte. Diese Aussage bildete meinen Ausgangspunkt des Referates zu “Vermessenem Unbehagen (und seine Analyse) mit der Schweiz”, das ich gestern vor dem Verein für Zivilgesellschaft hielt.

Symptome und Szenarien
Wie schon der Titel ankündigte, wollte ich bei gut belegbaren Beispielen nicht stehen bleiben – etwa mit angenommenen Initiativen zur Abzockerei, zum Zweitwohnungsbau oder zur Ausschaffung kriminell gewordener AusländerInnen auf Bundesebene, zahlreichen Beschränkungen des Rauchens in den Kantonen. Vielmehr stand für mich das punktuelle, teilweise breit gewordene Unbehagen für einen grösseren Wandel der gesellschaftlichen Perspektiven der letzten Jahre: Die Ego-Gesellschaft, seit den 90ern des 20. Jahrhunderts dominant, ist mit der Finanzmarktkrise arg in Bedrängnis geraten: Der Individualismus hat seine Grenze erreicht, das Nützlichkeitsdenken im Sinne maximierter Eigenvorteile erzeugt immer häufiger politischen Widerspruch, und Aktionären, die ihr Management über Gebühr gewähren lassen, werden zum Einschreiten gezwungen. Ein erster Gegentrend hierzu wird in der Suche nach neuen und wichtiger werdenden Balancen sichtbar: zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Erwerbs- und Familienarbeit, aber auch zwischen Oekonomie und Oekologie oder zwischen Freiheit und Verantwortung. Beiden Entwicklungspfaden unserer Gesellschaft ist eigen, dass sie Wirtschaftswachtstum voraussetzen; im ersten Fall, dem liberalen, braucht es dafür keinen starken Staat, im zweiten, dem sozialen, dagegen schon. Doch es gibt auch auch Befürchtungen, dass wir unseres hervorragenden wirtschaftlichen Fundamentes verlustig gehen könnten, Verteil- und Kulturkämpfe auf uns zukommen, und es zum grossen clash im liberalen Staat kommen könnte. Schliesslich fürchtet man bisweilen auch, dass der Staat überhand nehmen könnte, um angesichts wirtschaftlicher Not die verarmten menschen, unfähig zur Selbstkontrolle, vor sich selber schützen zu müssen.

Hervorragender Outpt, Probleme mit dem Input, Troughput im falschen institutionellen Umfeld

Trotz optimistischen und pessimistischen Szenarien, die angesichts des aktuellen Unbehagen den Diskurs in der Schweiz zu prägen begonnen haben: von einem generellen Wirtschafts- und Staatsversagen mag ich nicht sprechen. Die Sorgenbarometer-Untersuchungen bestätigen mich regelmässig in dieser Einschätzung. Zwar halten respektable Minderheiten nichts mehr von der Oekonomie und der Politik in diesem Land; die Mehrheit teilt solch düstere Diagnosen jedoch nicht. Wachstumskritik und Dichtestress angesichts des Bevölkerungswachstums nehmen zwar zu, ohne dass ein genereller Kippunkt bei der Personenfreizügigkeit sichtbar geworden wäre. Solche Belege lassen sich in zeitgenössischen Studien zur Lage der Nation zuhauf finden. Genauso verhält es sich mit dem Regierungsvertrauen: Es wird zyklisch erschüttert, doch bleibt es insgesamt mehrheitlich, im internationalen Vergleich ausserordentlich hoch, wie nicht zuletzt die arge Niederlage der Volksinitiative für eine Volkswahl des Bundesrates klar machte.
Diese Befunde stimmen mit grundlegenden Einschätzungen der Politikwissenschaft überein. Empirische Etudien zu den output-Leistungen des Systems Schweiz zeigen gerade im internationalen Vergleich, dass wir keinen gescheiterten Staat haben, vielmehr prägen hervorragende Leistungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt seinen Output. Unsere Hochschulen sind top, ebenso unsere Innovationsfähigkeit und die Attraktivität unseres Landes im Standortwettbewerb. Auch unsere Demokratieleistungen lassen sich sehen: Wenn es um die Realisierung von Freiheit, aber auch von Kontrolle des Staates geht, bekommen wir regelmässig Höchstnoten. Das ist einzig bei der Umsetzung von Gleichheit nicht immer der Fall: bei der Vertretung aller Bevölkerungsgruppen in den Behörden, bei der Partizipation der jungen Generation an Wahlen und Abstimmungen und bei der Transparenz des Politikbetriebes happert es bisweilen. Insgesamt kritischer sind die Befunde der Politikwissenschaft inputseitig: Steigende Zahlen lancierter, aber auch angenommener Volksinitiativen sind ein Zeichen vernachlässigter Probleme. Fragmentierung des Parteiensystems mit erschwerter Mehrheitsbildung schwächen die gezielte politische Schwerpunktsetzung. Und die Krise von diverser Interessengruppen belegt, dass die politische Steuerung, wie sie im Verbandssstaat Schweiz angedacht worden ist, von rückläufiger Bedeutung ist. Stark geändert hat sich auch der throughput: Wichtige Entscheidungen auf der Basis des Konsenses oder mittels breitem Kompromiss sind selten geworden. Es dominiert die Allianzbildung unter den Akteuren, die auf Mehrheitsentscheidungen von rechts oder links angelegt sind, selbst wenn am Ende das Referendum droht. Das alles geht einher mit einer Krise des Neokorporatismus, die zwei neue Formen der politischen Steuerung sichtbar werden lässt: die Technokratie der alternativlosen Postpolitiken einerseits, der Populismus anderseits, angeführt von immer staatskritischeren Medien. Ersteres ist demokratisch schwach legitimiert, aber leistungsfähig, insbesondere dank einer professionalisierten Verwaltung; zweiteres kann sich bisweilen auf Volksabstimmungen stützen, wenn auch damit nur ein Teil der politischen Problemlagen erhellt wird.

Vor- und Nachteil des Systems in Schräglage

Adrian Vatter, exponenten der jüngeren Generation Berner Politikwissenschafter, spricht in seinem Buch zum politischen System der Schweiz, das dieser Tage erscheint, von einem “System in Schräglage”, denn sein institutionelles Fundament ist unverändert auf Konsensfindung, Föderalismus und direkte Demokratie angelegt; das Eliteverhalten jedoch passt nicht mehr zu diesen Voraussetzungen: vom Vorbild der Konkordanzdemokratie bewegt sich die Schweiz deshalb hin zum Normalfall dieses Demokratiemusters – mit seinen unbestrittenen Leistungen, aber auch mit neuen Problemen.
Um es klar zu machen, Pluralisierung der Diagnosen, Allianzbildungen von Fall zu Fall, nicht vorgefertige Entscheidungen haben den innenpolitischen Diskurs zweifellos belebt. Sie machen innenpolitische Entscheidungen nicht einfacher, aber flexibler in der Antwort auf Herausforderungen. Das hat in der Bankenfrage und bei der Energiewende Dynamik gebracht, die man durchaus als Vorteil sehen kann. Von Nachteil ist es aber, wenn es um die aussenpolitische Handlungsfähigkeit geht. Diese hat arg gelitten, und sie ist zurecht die Quelle des eigentlichen Unbehagens von heute. Die Eliten der Schweiz in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Wissenschaft, die sich alle auseinander entwickelt haben, sind gefordert, neue übergreifende Netzwerke zu entwickeln, welche daran arbeiten, rechtzeitig nationale Interessen im internationalen Umfeld zu identifizieren, verbunden mit Lösungen, die breit getragen werden und damit von der Politik als legitime Handelungsanweisungen übernommen werden können.

Claude Longchamp