Dreimal Nein am 24. November 2013?

Immer häufiger werden Prognosen zu Wahlen gemacht. Die Neuerungen der Forschung werden vermehrt auch bei Schweizer Abstimmungen angewandt. Oliver Strijbis geht dabei am weitesten. Statistisch ist sein Vorgehen interessant, analytisch ist es zu einfach. Ungenauigkeiten sind vorprogrammiert.

Die Prognosen von 50plus1
In der Schweiz ist Oliver Strijbis nur in ausgewählten Fachkreisen bekannt. Hauptamtlich arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Vergleichende Politikwissenschaft der Universität Hamburg; nebenamtlich ist der Co-Geschäftsführer der Principe Consulting GmbH mit Sitz im zürcherischen Maur. Ueber diese Gesellschaft betreibt er die Website www.politikprognosen.ch und seit jüngstem auch den Blog “50plus1“. Kerngeschäft: Prognosen zur Schweizer Politik.

Regelmässig stützt ich der Hamburger Politologe auch auf die Umfragen unserer Instituts. Diese erstellen wir seit 1998 für die SRG Medien. Seit 2008 haben wir sie systematisch ausgewertet, und stellen dies im Anhang zu jeder Welle aufdatiert für alle Interessierten zur Verfügung. Genau darauf stützt sich der deutsche Forscher, wenn er Abstimmungen prognostiziert.

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Plots von Strijbis, die der Formel für die Prognose zugrunde liegen: Bei Initiativen sind die Punkte recht nahe bei der Regressionsgraden, bei Behördenvorlagen nicht. Das beeinflusst die Prognosemöglichkeiten.

Das verwendete Vorgehen ist einfach: Verglichen werden Umfragewerte aus der ersten Welle mit dem Endergebnis. Daraus abgeleitet wird die Formel, wie beide Grössen statistisch zusammenhängen; hat man die, und die Ergebnisse der ersten Erhebung zu einer neuen Volksabstimmung, kann man Vorhersagen machen. Im September 2013 kam er so auf 32 Prozent Zustimmung für die GSoA-Initiative, auf 53 Prozent Ja für das Epidemiengesetz und auf 47 Prozent Befürwortung für die Tankstellenvorlage.

Ganz falsch lag der Forscher damit nicht! Denn die Mehrheiten stimmten in zwei der drei Fälle. Genau war die Prognosen allerdings nicht! Die mittlere Abweichung lag bei 7 Prozentpunkten. Das ist im Bereich der intuitiven Schätzung, sprich: das kann man auch ohne Statistik. Interessant jedoch ist die Systematik der Abweichungen: Bei der Initiative war er zu hoch, bei den Behördenvorlagen zu tief. Bei den Tankstellenshops gab es nicht nur die falschen Mehrheit, sondern mit 9 Prozentpunkten auch die grösste Abweichung.

Nun hat Strijbis dieser Tage seine Prognose für die kommenden Volksabstimmungen veröffentlicht: Demnach gibt es am 24. November 2013 drei Nein. Die 1:12 Initiative käme auf 37 Prozent Zustimmung, die SVP-Initiative auf 49 Prozent, und bei der Vignette würde es eine 45:55 geben. Ist damit jetzt schon alles klar? – Ich zweifle … vor allem an den Prozentwerten.

Meine Verbesserungen
Ich kenne die eingesetzte Methode gut genug, um sie beurteilen zu können. Denn ich arbeite auch damit, um zu Vorstellungen zu gelangen, was bis zum Abstimmungstag zu erwarten ist. Allerdings mache ich das nicht öffentlich, denn es ist mir zu wenig ausgereift. Und diese wohl ich mit einem elaborierteren Modell arbeite, denn seit ich das Verfahren verwende habe ich Verschiedenes hinzu gelernt:

Erstens, Volksinitiativen und Behördenvorlagen unterscheiden sich hinsichtlich der Dynamik der Meinungsbildung. Die Faustregel ist, dass sich der Behördenstandpunkt mit dem Abstimmungskampf vermehrt durchsetzt; entsprechend geht die Zustimmung zu allen von Regierung und Parlament unterstützten Initiativen in den letzten Wochen zurück, während sie bei Behördenvorlagen steigt.

Zweitens, diese Regularität ist aber nur bei Volksinitiativen gut genug, um sie zu formalisieren. Bei Behördenvorlagen gilt sie zwar mehrheitlich, doch sind die abweichenden Fälle erheblich. Der Durchschnitt sagt eigentlich nichts.

Drittens, man kann bei Volksinitiativen aufgrund des Gesagten in den allermeisten Fällen auf Varianten der Meinungsbildung verzichten; bei Behördenvorlagen lohnt es sich aber, sie stets mitzudenken. Entscheidende Grösse ist, ob die Allianz aus der parlamentarischen Entscheidung hält oder, ob sie im Abstimmungskampf bröckelt.

Viertens, Konflikten in den Eliten einer Parteien zeigen sich anhand abweichender Mehrheiten zwischen Fraktion und Delegiertenversammlungen resp. an abweichenden Empfehlungen zwischen nationaler und kantonalen Parteiteilen. Entscheidend ist hier, wie stark resp. wie verbreitet solches vorkommt. Elite/Basis-Konflikte zeichnen sich dadurch aus, dass es, bei Differenzen zwischen den Position einer Partei und ihrer Wählerschaft, während des Abstimmungskampfes zu keiner Annäherung der Standpunkt im Sinne der Anpassung der Basis an die Elite kommt.

Strijbis berücksichtigt meinen ersten Punkt, die drei anderen negiert er. Entsprechend halte ich seine Prognosen aus der ersten Welle unserer Befragungsreihen für zu riskiert. Das weiss auch der Kollege aus Hamburg, und so fügt er, aufgrund der zweiten Welle eine weitere Prognose hinzu. Die war im September 2013 besser, denn es gab keinen Mehrheitenfehler mehr; doch blieb die mittlere Abweichung mit 5 Prozentpunkten höher als der normale Stichprobenfehler von Umfragen.

Kritik
Meine Position lautet: Bei Volksinitiativen kann man versuchen, so wie Strijbis Prognosen zu machen. Bei Behördenvorlagen rate ich dagegen eindeutig ab. Denn erst mit dem Abstimmungskampf kann man entscheiden, ob es zu Konflikten innerhalb einer oder mehrerer (Regierungs)Parteien kommt oder sich die verschiedenen Ausgangsstandpunkte annähern.

Ich stimmt mit den Vorhersagen überein, dass die Zustimmung zu Initiativen mit dem Abstimmungskampf sinkt. Bei 1:12 bedeutet das, die Ablehnung ist wahrscheinlich; bei der SVP-Initiativen würde ich es offen lassen. Bei der Vignetten-Vorlage halte ich die frühe Prognose von Strijbis für ein Artefakt, das eine zu skeptische Aussicht vermittelt.

Oder anders gesagt: Vor der punktgenauen Verwendung präzis anmutender Prognosen sei gewarnt.

Claude Longchamp