1:12-Initiative ist keine zweite Minder-Initiative

Die Analyse am Tag der Minder-Abstimmung war bisweilen rasch gemacht: Wirtschaftspolitische Initiativen seien nun mehrheitsfähig; die Lohnthematik habe den Umschwung gebracht. Flugs wurde die 1:12-Initiative zur zweiten Abzocker – Initiative emporstilisiert. Sprich: Auch sie würde in der Volksabstimmung angenommen werden.
Die erste SRG-Umfrage zu den Volksabstimmungen vom 24. November 2013 zeigt nun, dass man, wie so oft, differenzieren muss. Denn die 1:12-Initiative startet mit 44 Prozent Zustimmungsbereitschaft und 44 Prozent Ablehnungspotenzial. 12 Prozent der Teilnahmewilligen wissen nicht, wie sie stimmen wollen. Bei der Minder-Initiative lautete der Startwert 65 zu 25; 10 Prozent waren damit unschlüssig.
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Wie kann man sich den Unterschied zwischen beiden Initiativen erklären?
Zuerst durch den Inhalt: Die Minder-Initiative verlangte mehr Aktionärsdemokratie. Das war letztlich eine liberale Forderung, wenn auch mit einer Kritik an Auswüchsen des liberalen Systems verbunden. Die 1:12-Initiative setzt ganz anders an: Sie will staatliche Regelungen des Lohnsystems in den Unternehmungen.
Dann durch den Absender: Thomas Minder war und ist Gewerbetreibender. Er geht als Patron eines mittelständischen Betriebes durch, der wegen seinen Forderungen Applaus von Rechts-Konservativen und Linken bekam. Getragen wird die 1:12-Initiative von der JUSO. Unterstützung gibt es bei den Gewerkschaften und von den linken Parteien. Der Support aus dem konservativen Lager ist gering; auch das Gewerbe lässt sich kaum dafür mobilisieren.
Man tut gut daran, nebst den Gemeinsamkeiten der Initiativen auch die Unterschiede zu analysieren. Auch mit Blick auf die Mindestlohn – Initiative, getragen von den Gewerkschaften, fokussiert auf die tiefsten, nicht die höchsten Löhne.

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Die aktuelle Erhebung legt Unterschiede in den Zustimmungswerten zu Kampagnenbeginn offen. Wer damals gegen die Minder-Initiative war, ist es in sehr hohem Masse auch jetzt. Anders sieht es bei den damaligen BefürworterInnen aus: 4 von 10 der damaligen Ja-SagerInnen wollen gegen die 1:12-Initiative stimmen oder sind unschlüssig.
Hauptgrund: Die Zustimmungswerte zu 1:12 sind im bürgerlichen Lager durchwegs geringer, was die Kennzeichnung des aktuellen Konfliktmusters durch die Links-/Rechts-Achse zulässt. Ihre Position geändert haben die RentnerInnen; bei Minder auf der Ja-Seite; bei 1:12 kaum. Geblieben ist die Zustimmung aus der Unterschicht. Sowohl bei der Minder-Initiative wie auch bei der 1:12-Vorlage will, in der Ausgangslage, eine Mehrheit zustimmen.
Das alles hat auch mit einer veränderten Kampagnensituation zu tun: Die Nein-Kampagne zur Minder-Initiative startete mit viel Kritik, wegen der Überheblichkeit der Akteure und der Unprofessionalität der Militanten. Auch das hat sich geändert. Im Vordergrund steht diesmal kaum die Metadiskussion über die Kampagne. Vielmehr sind zwei Botschaften platziert worden: die Ordnungsfrage einerseits, die Folgen für die Finanzen des Staates und der Sozialwerke anderseits. Beides zeigt Wirkung, mehr als die Nein-Kampagnen gegen das Minder-Vorhaben.
Entschieden ist die Sache dennoch nicht schon jetzt: Die 1:12-Initiative hat gegenwärtig gleich viele BürgerInnen hinter wie gegen sich. Die aufgeworfene Frage nach der Gerechtigkeit im Lohnsystem ist das zentrale Element. Auseinanderdriftende Pole oben und unten sind der zentrale Ansatzpunkt der Ja-Kampagne.
Doch liess sich die Gegnerschaft, wenigstens bis jetzt, nicht in der Ecke der Stellvertretenden des Grosskapitals festnageln. Deshalb haben wir heute keine mehrheitlich ausgerichtete Situation gegen die Abzocker, sondern eine Kontroverse über das Lohnsystem vor allem in den internationalen Organisationen bei denen das Pro und das Kontra abgewogen werden.
Claude Longchamp