Das Wissen und Können von ExpertInnen (der Zukunft)

Gestern war meine letzte Zürcher Lehrveranstaltung im Frühlingssemester zur Wahlforschung in Theorie und Praxis. Sie war ganz dem Phänomen der Experten (im Wahlgeschehen) gewidmet.

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Die Grafik zeigt die Häufigkeit der Zitierung von PolitexpertInnen in den Schweizer Printmedien 2012-2013
Grafik anclicken, um sie zu vergrösserm, Quelle: SMD/gfs.bern

Schattenregime der Politologen?“, fragte die Bernerzeitung im Vorfeld der letzten Nationalratswahlen. Ausführlich beschrieben wurde namentlich die Medienpräsenz der PolitikwissenschafterInnen. Analysiert wurde, dass es sich dabei um einen Markt handelt, nachgefragt durch die Medien, mit Anboten seitens der Sozialwissenschaften. Im Vergleich zum Ausland ist die Präsenz tatsächlich beträchtlich, hauptsächlich wegen dem Fehlen von Denkfabriken und Stiftungen, die meist Fürsprecher einer Partei oder einer Weltanschauung sind. Kriterien der Medieneignung von PolitologInnenen an Universitäten oder ausserhalb seien bespielsweise die Wissenschaftlichkeit, die Relevanz, die Originalität, die Präzision, die Prägnanz, die Geschwindigkeit, der Unterhaltungswert und die Ueberparteilichkeit.

Dem stellte ich meine eigene Analyse gegenüber. Hauptgrund ist, dass ich kein PolitologInnen-Regime erkennen man, vor allem weil diese letztlich individualistische Akteure sind, unter sich eher konkurrenziv als kooperativ agieren. Um ihr Profil zu bestimmen, muss man zuallererst unterscheiden, wie sich ihre Reputation in- und ausserhalb der Universität entwickelt. Innerhalb der Institution definieren Autoritäten, seien sie Vorgesetzte oder FachkollegInnen den Ruf eines/einer WissenschafterIn. Zentrales Kriterium ist die Produktion von wissenschaftlichen Schriften, verbunden mit deren Zitierhäufigkeit, vorzugsweise in angelsächsischen Zeitschriften. Damit dominiert die top-down-Logik. Ausserhalb der Universität ist die bottom-up-Perspektive viel wichtiger. Es gibt Kundschaft bei Parteien, PolitikerInnen, bei Massenmedien und politischen Kommunikatoren. Massgeblich für Wissenschafter in der Praxis ist der Erwerb von symbolischem Kapital, zusammengesetzt aus Wissen und Können, Netzwerken und ökonomisch relevanten Mandaten, die man erworben hat. Denn er der Experte ist der (vielfach) erprobte. Gleichzeitig muss dieses symbolische Kapital sichtbar sein, beispielsweise durch Medienpräsenz.

In meiner Erfahrung sind die Fähigkeit zur Diagnose, zur Erklärung und zur Prognose die drei Kernkompetenzen der ExpertInnen. Das setzt breite Kenntnisse der Theorien in der Fachdiskussion voraus, bleibt aber nicht dabei stehen. Erwartet wird, dass man diese nutzen kann, um bei vorhandenen Problemen neuen Lösungen entwickeln zu können. Ohne die Fähigkeit, sowohl im Abstrakten wie auch im Konkreten denken zu können funktioniert das nicht. Mein Anforderungskatalog umfasst Schnelligkeit, Zuverlässigkeit, Verständlichkeit, Debatten- und Medienerprobtheit und, ganz besonders für die Schweiz, Mehrsprachigkeit in Wort und Schrift in mindestens zwei Landessprachen.

ExpertInnen, folgerte ich zuhanden des studentischen Publikums, müssen verschiedene Rollen entwickeln Lernen: gegenüber der Kundschaft, aber auch gegenüber den Medien. Sie sind BerichterstatterInnen, GutachterInnen, AnalystInnen AnimatorInnen, ModeratorInnen, Coach, sie verfassen Bücher, schreiben Kolumnen, geben Interviews, mischen sich mit Blogs ein, Twittern und beliefern Mandanten und Medien auf Nachfrage.

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Die Grafik zeigt den Verlauf der Präsenz von Gewährspersonen im Spiegel in den letzten 65 Jahren
Grafik anclicken, um sie zu vergrösserm, Quelle: surveillance and security

Geschlossen habe ich leicht pessimistisch. Amerikanische Studien verweisen seit einiger Zeit darauf, dass die Nachfrage nach zitierten Experten sinke. Gleiches hielt jüngst auch eine Auswertung des Spiegel über die letzten 60 Jahre fest. Vielleicht sind wir heute in einer weiteren Umbruchszeit: die erste war um 1970, als ProfessorInnen von ExpertenInnen und ForscherInnen abgelöst wurde, die zweite fand eher schleichend in den letzten 10 Jahren statt, wohl weil entpersonalisierte Expertensysteme personalisierte Gewährsleute abzulösen beginnen.

Meinen Studierenden riet ich am Ende der Lehrveranstaltung dennoch zu Optimismus. Sie sollten in frei zugänglichen Wikis aktiv zu werden, denn das sei die kommende Angebotsform wenigstens des ExpertInnenwissen. Das Expertenkönnen wird davon nicht so schnell erfasst sein. Insofern hätten auch sie durchaus Chancen.

Claude Longchamp