Die Position Schweizer Tageszeitungen im politischen Raum

Die Idee ist innovativ: Die Qualitätsmedien der Schweiz politisch zu positionieren. Bestechend ist auch die Durchführung der entsprechenden Untersuchung, denn sie veri- und falsifiziert Eindrücke, die selbst Experten vermitteln. Genau deshalb würde man sich wünschen, dass die so ermittelten Ergebnisse regelmässig aufdatiert und über die Deutschschweiz hinaus ausgeweitet würden.

Man nehme wichtige (Deutsch)Schweizer Tageszeitungen, analysiere deren Kommentare und Nachrichten und ordne die untersuchten Massenmedien ins politische Koordinatensystem ein, um eine Uebersicht über die politischen Positionen Schweizer Tagesmedien zu erhalten.

Geleistet hat dies Jan Vontobel (heute Chefredaktor von Radio Top in Winterthur) mit seiner medienwissenschaftlichen Lizentiatsarbeit an der Uni Zürich. Ausgewählt hat er den Tages-Anzeiger, die Neue Zürcher Zeitung, die Berner Zeitung, die Mittellandzeitung und die Neue Luzerner Zeitung. Untersucht hat er zwei Mal drei Monate in der Zeitspanne von Dezember 2002 bis August 2004, der Zeit also vor und nach den Schweizer Parlamentswahlen 2003. Die Staffelung hat den Vorteil, situative Eindrücke durch eine nationale oder kantonale Wahl zu vermeiden. Berücksichtigt wurden dabei die Nachrichtenbeiträge auf der Front- und den beiden (ersten) Inlandseiten sowie alle Kommentare zu innenpolitischen Themen, egal, wo sie jeweils platziert waren. Geprüft wurden mit den so gewonnenen Daten 3 Hypothesen, deren Test die folgenden Schlüsse zulässt:

Erstens, alle fünf Zeitungen nehmen durchaus eine politische Position ein, die si speziell in den Kommentaren zum Ausdruck bringen. Die grössten Unterschiede resultieren auf der Links/Rechts-Dimension, wobei der Tages-Anzeiger die linke Seite abdeckte, während NZZ, BZ und NLZ nahe der Mitte positioniert sind und die MZ eher die rechte Seite bedient. Auf den weiteren analysierten Dimensionen sind die Unterschiede geringer, denn alle fünf Zeitungen kennen eine insgesamt ökologisch-liberale Ausrichtung, die die der MZ und der NZZ am klarsten, bei NLZ, aber auch BZ etwas eingeschränkt zum Ausdruck kommt. Als Hauptgrund hierfür nennt der Autor die Auswahl, die sich auf regional führende Tageszeitungen stützte, andere Typen von Printmedien aber nicht berücksichtigte.


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Zweitens, im Nachrichtenteil herrscht weitgehend mainstream. Selbst die getesteten Konzepte der „instrumentellen Aktualisierung“ resp. der „opportunen Zeugen“, mit denen Redaktionen Akzente setzen können, ergeben kaum Unterschiede, sodass sich die Kommentierung kaum auf die Nachrichtenauswahl auswirkt. Eher noch gilt, dass sich die Stärke einer politischen Partei die Berücksichtigung ihrer Meinungen bestimmt.

Drittens, parteipolitisch gesehen stand der Tages-Anzeiger im Untersuchungszeitraum der SP am nächsten. Vontobel schreibt, das sei zu erwartet gewesen. Indes, das Ergebnis für die vier anderen Zeitungen überraschte ihn (und macht dies wohl auch bei anderen), denn sie zeigten mit Ausnahme der MZ Affinitäten zu den Grünen (und das selbst dann, wenn man auf die ökologischen Themen verzichtet). Im gewählten Sample an Zeitungen hat die SVP keinen “Medienpartner”, FDP und CVP müssen mit der Distanz des TA umgehen, GPS und SP mit der der MZ, während bei letzerer auch die BZ entfernt ist in ihren Kommentaren.

In der Einleitung zu seiner Untersuchung zitiert Jan Vontobel die bekannte Uebersicht des zwischenzeitlich emeritierten Professors Roger Blum, die er zu Tages- und Wochenzeitungen periodisch veröffentlicht. Er kritisiert dabei sachte das verwendete methodische Vorgehen, das sich nicht auf eine Inhaltsanalyse stützt, sondern auf die Erfahrungen des prominenten Medienwissenschafters, die er mit 10 Kontrollgesprächen validiert. Zwar ist nach der Lektüre der ersten Analyse der neuen Art nicht alles neu. Bei der NZZ und der NLZ weicht die Positionierung aber prominent ab, denn Blum stuft beide als rechtsliberal ein, derweil sie Vontobel (im innenpolitischen Teil) in der Mitte platziert.


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Zu wünschen wäre, dass der stringent entwickelte und klar formulierte Ansatz des Zürcher Medienwissenschafters insbesondere für die Kommentaranalyse weiter gebraucht würde: mit mehr Zeitungen, insbesondere unter Berücksichtigung der mittleren und kleineren Regionalpresse und mit aktuelleren Daten. Denn seit 2002/4 hat die Schweizer Oeffentlichkeit eine bemerkenswerte Kehrtwende Richtung konservativer Deutungen vollzogen, die sich gerade auch im Mediensystem ausdrücken dürfte. Zu erwarten ist nämlich, dass die Weiterverwendung des vorgestellten Analyserasters hilft, die Differenzierungen politischer Positionen im Mediensystem nicht nur auf der Basis von Opportunitäten zu machen (wie das in Medienwächterkreisen gerne geschieht), sondern aufgrund gesicherter Analysen vorzunehmen (und damit einer rationaleren Diskussion zuzuführen). Auffällig ist hierzulande nämlich, wie fleissig man die Positionen der Parteien in Wahl- und Abstimmungskämpfen bestimmt, während man immer noch so tut, als ob die “vierte Gewalt” im Staat reine Transporteure von Nachrichten aus der Politik seien, ohne die öffentliche Meinung auch eigengesetzlich zu bilden.

Claude Longchamp