Kampagneneffekte oder Zeitenwandel? Der Vergleich der Entscheidungen zum Familienartikel und Familienzulagengesetz

2006 sagten die Stimmenden Ja zum heute geltenden Familiezulagengesetz. Kampagnenanalysen und Vorbefragungen legten schon früh eine Verhältnis von zwei zu eins nahe. Das galt beim Familienartikel, bevor der Abstimmungskampf begann. Doch seither ist alles anders. alles wegen dem Extrablatt oder wegen des Zeitenwandels?

Das wenig umstrittene Familienzulagengesetz
Hans Hirter, erfahrener Abstimmungsanalytiker, kommentierte in der VOX-Analyse die Volksentscheidung vom 28. November 2006 zum Familienzulagengesetz wie folgt: „Überdurchschnittlich oft mit Ja stimmten Personen, die grundsätzlich einen zentralistischen Staat dem Föderalismus vorziehen. Aber auch die Anhänger des Föderalismus gaben den Anliegen ihre Zustimmung zu einer Bundeslösung.” Hauptgrund sei gewesen, die kantonalen Familienzulagen zu harmonieren. Darin bestand weitgehend Einigkeit.

Bei einer Stimmbeteiligung von 45 Prozent, votierten 68 Prozent für die Vorlage. Soziale und ökonomische Merkmale der Stimmenden spielten eine nur untergeordnete Rolle, wie die Nachanalyse zeigte; viel wichtiger war die starke Prägung der Entscheidung über das Gesetz vom Links/Rechts-Gegensatz. Das zeichnete sich schon in der Kampagne ab. SP und CVP waren dafür, SVP und FDP dagegen. Die Basis folgte den Parteien mehrheitlich, wenn auch mit einer Ausnahme: Die FDP drang mit ihrem Nein selbst bei der eigenen Wählerschaft nicht durch. Zudem stimmten auch die Ungebundenen klar für das Familienzulagengesetz.


Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Unsere Vorbefragungen für die SRG handelten die Entscheidung im gleichen Tenor ab. Die Meinungsbildung bei Behördenvorlagen mit mehrheitlich positiver Prädisponierung und nur schwachem Abstimmungskmapf gab den Interpretationsrahmen ab. In der Tat, acht Wochen vor dem Abstimmungstag waren 69 Prozent dafür, 3 Woche davor 70 Prozent. Das bekundete Nein lag bei 21 resp. 19. Prozent. Beide Male war die Polarisierung entlang der Parteibindungen am stärksten. Viel Bewegung brachte der Prozess der Meinungsbildung ausser bei der CVP nicht. Bei ihren SympathisantInnen aber erhöhte sich mit der Ja-Kampagen die Zustimmung.

Argumentativ stand die Vision im Vordergrung, eine gut ausgebildete Jugend zu fördern. Diese sollte nicht von kantonalen Unterschieden beeinträchtigt sein. Bei der Gegnerschaft wirkte die Überzeugung, durch die Hintertür werde ein neues Sozialwerk geschaffen, dass zu Staatskindern führe. Beides aber war nicht mehrheitsfähig, genauso wie das Nein zur Vorlage in der Minderheit blieb.


Der umstrittenere Familienartikel

Der Vergleich mit dem Wissen, das wir jetzt schon zur Meinungsbildung haben, die zum neuen Bundesverfassungsartikel in Sachen Familienpolitik läuft, weist neben gewissen Gemeinsamkeiten gewichtige Unterschiede auf.


Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Die wichtigste Differenz besteht darin, dass mit dem Abstimmungskampf Bewegung in die Stimmabsichten gekommen ist. Sie begannen, mit 66 Prozent Zustimmungsbereitschaft fast am gleichen Ort wie man gut sechs Jahre zuvor startete. Doch anders als damals hielt das nicht, sondern erodierte in markantem Masse. Die Gegnerschaft holte um zwölf Prozentpunkte auf, liegt nun bei 35 Prozent, derweil die Befürwortung um elf Prozentpunkte auf 55 sank.

Auch diesmal ist die parteipolitische Aufladung wichtiger als gesellschaftliche Trennlinien. Anders als damals, zeigen die Parolen erhebliche Wirkungen. Bei der SVP sank die Zustimmung von anfänglichen 47 auf 31 Prozent, bei der FDP von 59 auf 44 Prozent. Drastischer noch sind die Auswirkungen auf die parteipolitisch ungebundenen BürgerInnen, bei denen die Zustimmungstendenz von 80 auf 48 verringerte. Von dieser Bewegung nicht erfasst wurde auch diesmal das Mitte/Links-Lager.

In der französischsprachigen Schweiz stellt man von diesem Meinungswandel kaum etwas fest. Deutlicher schon kommt er in der italienischsprachigen Schweiz zum Ausdruck, die stärkste Bewegung stellte die SRG-Umfrage aber in der deutschsprachigen Schweiz fest. Das spricht für ein Ost/West-Gefälle in den Ansichten zum Familienartikel.

Wenig weiss man diesmal über die Argumente, was mit dem Abstimmungskampf zu tun hat: Von einer Ja-Kampagne kann man nicht wirklich sprechen. Ganz anders die Nein-Seite. Die Opposition in der Sache kann auf erhebliche Mittel zählen, die in Politmarketing investiert werden.

So ist, anders als damals, keine positive Vision entwickelt worden, die den Familienartikel beflügeln würde. Eher noch wird mit den unmittelbaren Vorteilen argumentiert, welche mehr Krippen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bringen würden. Genau das wird von der Nein-Seite heftig bestritten. Aufbauend auf dem konservativen Familienbild werden die Argumente von 2006 wiederholt.

Die Ursachen
Um das alles zu erklären, kann man auf zwei verschiedene (vielleicht auch komplementäre) Hypothesen zurückgreifen.


Extrablatt der SVP – Hauptwerbemittel im Abstimmungskampf
Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Die erste besagt, der Umschwung ist eine reine Folge von Kampagnen. Würde es zweimal genau die gleiche gegeben haben, wäre zweimal das gleiche geschehen. Damit ist das Extrablatt die Ursache des Extrawandels.


Psychologisches Klima der Schweiz – Demoscope
Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Die zweite geht davon aus, dass in der Mitte der 00er Jahre des 21. Jahrhunderts das politischen Klima gekippt ist, von einer eher progressiven zu einer eher konservativen Grundstimmung, in der rechtskonservatives Gedankengut nicht mehr nur in der SVP, sondern einiges darüber hinaus beheimatet ist. Was wir an bildungspolitischen Debatten gesehen haben, wiederholt sich bei familienpolitischen.

Claude Longchamp

Der aktuelle Forschungsbericht zum Familienartikel