Von der Macht nationaler Identitäten

Die Grenzen der Schweiz wurden in den Nuller-Jahren des 21. Jahr-hunderts geöffnet, und die Migration ist zum festen Bestandteil geworden. Damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit der Fremdenfeindlichkeit, deren Ursachen man kennen lernen muss, will man zu geeigneten Massnahmen greifen. Eine neue politikwissenschaftliche Dissertation verspricht Abhilfe.

Die übliche Erklärung der Fremdenfeindlichkeit lautet: Wenn es der Wirtschaft gut geht, gibt es keine Probleme mit AusländerInnen, derweil diese auftauchen, sobald Arbeit zur Mangelware wird.

Deniz Danaci, Projektleiter an der Fachstelle für Integrationsfragen des Kantons Zürich, der jüngst an der Uni Bern zum Doktor in Politkwissenschaft befördert wurde, überzeugt das nicht. Vielmehr empfiehlt er, Fremdenfeindlichkeit aufgrund aktualisierter Identitäten zu erklären. Seine durchaus plausible These lautet: Hauptgrund für Minderheitenfeindlichkeit in der Schweiz ist die Wahrnehmung der Einheimischen, im eigenen Land fremd geworden zu sein. Geprüft hat der Autor dies anhand von Daten aus dem World Value Survey einerseits, den Vox-Analysen anderseits, sodass es im anzuzeigenden Buch nicht nur um Einstellungen, sondern auch um politisches Verhalten geht.

Am aufschlussreichsten sind Danacis Ausführungen zur nationalen Identität, genauer zu den nationalen Identitäten in der Schweiz. Die gängige Annahme, je nationaler eine Person eingestellt sei, desto eher nehme sie Fremde negativ wahr, taugt für ihn nicht wirklich. Vielmehr entwickelt er ein interessantes Konzept verschiedenartiger nationaler Identitäten, die sich danach unterscheiden liessen, ob man sich ausschliesslich national oder aber national und international identifiziere. Als zentrale Determinanten für diese Erweiterung vermutet er im Bildungsstand, nach dem Motto, je höher der Schulabschluss, desto wahrscheinlicher seinen gemischt (inter)nationale Selbstverständnisse.

Die ersten empirische Befunde befügelten den Politikwissenschafter in seiner Annahme. Xenophobie ist umso wahrscheinlicher, belegt er, je eher es an positiven Gefühle gegenüber der Gemeinschaft der Nationen fehle. Zudem, der Ausbau von Rechten für Minderheiten zum Schutz vor Fremdenfeindlichkeit, lasse sich mit Bildung im erwarteten Sinne erklären. Indes, es müssten weitere Faktoren beigezogen werden: Als wichtigsten Grund nennt er den Stadt/Land-Graben, wobei sich die ländliche Schweiz ziemlich geschlossen gegen entsprechende Vorschläge wehre. Das treffe übrigens nicht nur für nationale outgroups zu, wie er unerwünschte MigrantInnen nennt, sondern auf Minderheiten überhaupt, also beispielsweise auch auf Behinderte. Allerdings, es ist eine weitere Unterscheidung nötig: So stehen französischsprachige SchweizerInnen aufgrund gemischter nationaler Selbstverständnisse Einbürgerungen offener gegenüber als deutschsprachige. Diese Bereitschaft zur Aufnahme von Anderen ins Eigene verschwinde aber, wenn man sich nicht an die christlich ausgerichtete Leitkultur anpassen wolle. Wie die Kopftuch-Debatte zeige, spielten hier ganz offensichtlich Einflüsse aus den verschiedenen kulturellen Referenzräumen eine Rolle.

Damit ist der Autor definitiv bei der Islamophobie angelangt. Diese interpretiert er als spezifische Form der Xenophobie, und er sieht sie ähnlich strukturiert wie der Antisemitismus. Beide Phänomene seien ähnlich stark verbreitet, schreibt er, würden von den gleichen BürgerInnen geteilt und hätten ein ähnliches Erklärungsprofil, weshalb sie weitgehend deckungsgleich seien. Operationalisiert hat er das aber nicht wie üblich mit einer Analyse von Weltanschauungen, sondern mit einem vagen Distanzmass, mit dem sich soziale Gruppen wechselseitig vertraut fühlen.

Solche (und weitere) Befunde sind für Deniz Danaci Grund genug, sich den Ansichten anderer Analysen namentlich aus dem NFP 58-Programm anzuschliessen, wonach in der Schweiz eine (neue) Konfliktlinie zwischen jenen bestehe, die eine wirtschaftliche, politische oder gesellschaftliche Oeffnung gegenüber dem Ausland befürworteten, und jenen, die das ablehnten, wobei dies in unterschiedlichen Identitäten gründe. Angesichts offener Grenzen sei nicht von einem baldigen Verschwinden der Problematik auszugehen, prognostiziert er. Verhandlungs- und Informationsstrategie seien deshalb kein gesicherter Hebel, um die aktuellen Schwierigkeiten zu verringern; eher noch sei eine mittelfristige Abnahme bei schrittweiser Integration von MigrantInnen möglich. Bis dahin seien Polarisierungen zwischen dem Fremden und dem Eigenen auch ausserhalb wirtschaftlicher Krisen nicht auszuschliessen, weshalb es einen besseren Schutz von Minderheiten gerade bei direktdemokratischen Entscheidungen brauche.

Zu den Vorteilen der politikwissenschaftlichen Dissertation gehört es, sich einem aktuellen Phänomen anzunehmen, das Vorgehen auf theoretischer Basis entwickelt und anhand empirischer Daten untersucht zu haben. Die Nachteile liegen bei letzterem. Denn zur eigentlichen Prüfung der grundlegenden Annahme, nicht die sich zyklisch ändernde Wirtschaftslage, sondern dauerhafter angelegte soziale Identitäten seien entscheidend, bräuchte es Zeitreihen, die es für die Schweiz nicht gibt. Der vorliegende Test, der sich verfügbare Informationen auf individueller Ebene aus den Jahren 2007 bis 2009 beschränkt, reicht dazu kaum. Zweifel ergeben sich zudem bei den Ausführungen zu spezifischen Erscheinungsformen der Fremdenfeindlichkeit. Das beginnt im Sprachlichen, wird doch im Zusammenhang mit Muslimen ohne weitere Reflexion konsequent von „Islamophobie“ gesprochen, einem psychologisierenden Begriff, der nicht frei von politischen Kampfpositionen ist und in der vorliegenden Arbeit nur dürftig operationalisiert wurde. Es endet im Konzeptionellen, denn der Autor folgt einer auffälligen Parallelisierung der historisch gewachsenen Judenfeindlichkeit und den gegenwärtigen Erscheinungen von Muslimfeindlichkeit, die in der sozialwissenschaftlichen Literatur umstritten bleibt. Schliesslich hätte man sich angesichts der stark empirisch ausgerichteten Arbeit gewünscht, dass die generelle These in zusammenhängende, explizite Hypothesen gegliedert worden wäre, die es am Schluss erlaubt hätten, mehr als eine bisweilen etwas lose wirkende Zusammenfassung der Befunde zu liefern. Dazu hätte auch gehört, den Titel zu reflektieren, denn dieser spricht von der Macht sozialer, statt der untersuchten nationalen Identitäten.

Am meisten überrascht hat mich, dass in den Schlussfolgerungen keine Vorschläge gemacht wurden, wie die entscheidende, aber offensichtlich schwach ausgebildete Identifizierung der SchweizerInnen mit der internationalen Nationengemeinschaft erhöht werden könnte. Damit hätte möglicherweise die leicht fatalistische Schlussfolgerung, die auch den Autor am Ende seines Werkes befallen hat, durch einen perspektivischer Beitrag zur laufenden Diskussion überwunden werden können.

Claude Longchamp