Schicksalswahlen werden nicht in 90 TV-Minuten entschieden

Die Prognosen zu den amerikanischen Präsidentschaftswahlen waren treffsicher, und zwar kurz- und mittelfristig. Meine erste Auslegeordnung Gründen, welche die Wiederwahl Obamas ermöglichten.


Obama mit Familie, unmittelbar vor seiner bewegenden Rede zur Wiederwahl als US-Präsident

Noch wissen wir das genaue Endergebnis der US-Präsidentschaftswahlen nicht. Denn es fehlt das Resultat aus Florida. Dennoch: Barack Obama ist mit Sicherheit wiedergewählt worden. Das vorläufige Resultat für die Verteilung der Elektoren lautet: 303:206 für den Amtsinhaber (bei 29 offenen Karten); bei den Stimmen führt den Präsident mit 50 zu 49 Prozent.

Der Ausgang bei den WählerInnen mag knapp erscheinen. Er entspricht aber genau dem prognostizierten Wert. Die verschiedenen Aggregatoren von Umfragen legten ein 50,6 zu 49,4 nahe. Die Mittelwerte aus den Umfrageserien haben sich, wie Kolumnist Ezra Klein von der WashintonPost vor der Wahl schrieb, als zuverlässig erwiesen. Denn die grosse Zahl an Erhebungen führt zu einem mainstream in den Umfragen, der sich nicht irrt. Das ist nach 2004 und 2008 zum dritten Mal die Lehre der weiterentwickelten Anwendung von Demoskopie vor US-Wahlen.

Das alles darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass gerade die Focussierung auf nationale Befragungen auch Grenzen in der Anwendung hat: Denn die US-Präsidentschaftswahl wird nicht mit dem Stimmen der WählerInnen entschieden, sondern mit dejenigen der ElektorInnen. Und die werden je Bundesstaat bestimmt. Deshalb kommt man in den USA nicht um die Umrechnung von Wähler- und Elektorenstimmen herum. Da zeigten die genialen Analysen der herausragenden Wahlstatistiker Nate Silver, dass auch ein “tie” in der nationalen Wählerstärke zu einem Sieg des demokratischen Bewerbers führen. Selbst wenn er leicht weniger Stimmen gemacht hätte als der Republikaner, er hätte die Präsidentschaftswahl gewinnen können.

Sicher, die Wahlchancen Obamas haben sich in den ersten 10 Tagen nach der “DenverDebate”, den negativen Umfragewerten und den verheerenden Analysen verringert. Doch fiel der Präsident allen Dramatisierung zum Trotz bei den Elektorenstimmen nie hinter seinen Bewerber zurück. Denn verschiedene der zuverlässigsten Umrechnungstools legten anhaltend einen Vorsprung Obamas nahe, und einen voraussichtlichen Wert der immer über den nötigen 270 Stimmen lag.

Der Blick auf die Wackelstaaten bei US-Wahlen ist durchaus richtig. Allerdings ist er nur dann wirklich von Belang, wenn die Situation effektiv offen ist. Wenn das nicht oder nur scheinbar der Fall ist, kann die Fixierung auch täuschen. Denn man kann die Zahl der offenen Ausgänge in den Bundesstaaten soweit erhöhen, bis alles unsicher wird. Genau diesem Effekt sind Sender wie FOX, Analytiker wie Karl Rove und mit ihnen die Republikaner erlegen, gingen sie doch bis am Wahltag von einer unbestimmten Situation aus.

Nun zeigen die exit polls, dass Obamas GegnerInnen etwas richtig gesehen, in der Bedeutung aber zweckgeleitet weit überschätzt haben. Präsident Obama verlor gegenüber 2008 bei fast allen Bevölkerungsgruppen an Stimmen; aus dem Held von damals, der massiv Neuwählende und Wechselwählende in Scharen zu mobilisieren wusste, ist der Macher von heute geworden, dem der Erfolg nicht in den Schoss gelegt wird, der aber für diesen kämpft. Das polarisiert die Gesellschaft weniger in einzelne Gesellschaftsgruppen, sondern entlang eines Gefühls: Wer an die Zukunft der USA glaubt, welche Obama vorgezeichnet hatte, der wählte ihn vermehrt. Wer enttäuscht wurde, wandte sich ab. Die Bilanz ist dabei ausgeglichener als man zu meinen glaubte. Denn die letzten vuer Jahre brachten nicht nur das Budget ausser Rand und Band; mit ihnen gab es auch lang ersehnte soziale Reformen der amerikanischen Gesellschaft.

Alan Lichtman, Historiker und einer der erfahrenen Wahlanalytiker der USA, sollte 2012 zum siebten Mal in Folge Recht bekommen, wie man US-Präsidentschaftswahlen analysiert. Gemäss seiner Einschätzung der Schicksalswahl, mehr als ein Jahr vor dem Rummel der Kampagnen geschrieben und nur einmal nachgebessert, hatten die Demokraten und der Präsident aus ihren Reihen nur drei Schwächen: Zuerst, sie verloren die Wahlen mitten in der Legislatur; sodann hatte der Präsident mit seinem überwältigendem Wahlsieg 2008 zu hohe Erwartungen geweckt; schliesslich erwies sich die Erholung der Wirtschaft als schwierigen, als man sich das vorgestellt hatte.

Das alles durfte aber nicht über die Stärken der Präsidentschaft Obamas hinwegtäuschen. Zu diesen zählte Lichtman die Gesundheitsreform, aber auch den militärischen Sieg über al-Kaida. Obama setzte sich auf für Ende von Kriegen ein, die sein Vorgänger angezettelt hatte. Wichtiger noch in der heutigen Mediendemokratie: Der Präsident überstand die ersten vier Jahre ohne nennenswerten Skandal. Die Unruhe, welche die TeaParty aufbrachte, erreichte mehr die republikanischen Medien, als dass es ein breiter sozialer Protest gewesen wäre. Das alles hat es nicht erlaubt, dass eine neue Partei entstanden oder Obama innerhalb der Demokraten ernsthaft umstritten geworden wäre. Und nicht zuletzt: Die Personalentscheidung der Republilkaner war nicht zu beneiden; schliesslich favorisierte man Mitt Romney als besten der wenig Geeigneten, ohne damit einen neuen Helden gefunden zu haben, der die Wende hätte bewerkstelligen können.

Wahlen sind, lehrt uns gerade die amerikanische Wahlforschung, das Ergebnis aus verschiedenen Zeiterfahrungen: Zu guter Letzt konzentrierte man sich aus verschiedenen Gründen viel zu fest auf die kurzfristigen Effekte rund um die TV-Debatte. Die Leistungen der Obama-Administration erschienen sich in 90 schwachen Minuten des Präsidenten ganz aufgelöst zu haben. Doch das war bei den WählerInnen nicht nicht der Fall, denn der Wandel der amerikanischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert sprach für das neue Projekt des Amtsinhabers und die Erfahrungen mit Präsident Bush gegen einen raschen Wechsel der eingeleiteten Politik.

Claude Longchamp