Angestellte Schweiz wohin?

„Angestellte Schweiz“ heisst ein der Verband der Angestellten speziell der Maschinen- und Pharmaindustrie in der Schweiz. Auf Ende Jahr tritt er aus dem Dachverband travaille.suisse aus, um als eigenes Kompetenz- und Dienstleistungszentrum in Erscheinung zu treten. An der Herbsttagung diskutierte er seine Perspektiven.


Benno Vogler, Präsident der Angestellten Schweiz stellt die Frage nach der Zukunft seines Verbandes

An seiner traditionellen Herbsttagung in Bern beschäftigte sich der Verband “Angestellte Schweiz” mit der Lage der Angestellten, ihrem Herkommen und ihrer Zukunft: Volkswirtschafter Mathias Binswanger definierte das Phänomen ökonomisch, spricht aufgrund von Einkommen und leitete daraus Lebensgefühle wie Glück oder Unglück ab. Michael Hermann, Politgeograf, erklärte die (deutschsprachige) Schweiz als typische Mittelstandsgesellschaft, deren Habitus bis in die Gegenwart verbreitet bestehe. Selber versuchte ich darzulegen, dass moderne Gesellschaftsanalysen in der Regel zwischen Ober-, Mittel- und Unterschichten differenzieren, wobei der herkömmliche Mittelstand als alte Mittelschicht weiterbesteht, derweil die Ausbereitung von Angestellten typisch für industrielle und nachindustrielle Gesellschaften seien, mit denen die neuen Mittelschichten entstanden seien.

Eines wurde mir an der gestrigen Tagung klar: Die überwiegende Zahl der Delegierten von „Angestellte Schweiz“ verstehen sich als unverändert als „ Mittelstand“. Einige akzeptieren, ein Teil der modernen Massengesellschaft geworden zu sein und deshalb Züge der Mittelschichten tragen; vom Wunsch her würde man aber gerne wieder zu einem Stand werden. Nur eine Minderheit folgte spontan meiner Einteilung.

Macht das Sinn? Meiner Meinung nach nicht. Ich kann nachvollziehen, wenn Organisationen der Angestellten der marxistischen Lehre nicht folgen, wonach der Hauptwiderspruch in modernen Gesellschaften zwischen Kapitalisten und Proletariat bestehe, wobei Klassen dazwischen zwangläufig verarmen müssten; die Entwicklung seit Marx ist in eine andere Richtung verlaufen. Ich halte es dagegen für eine tiefliegende Sehnsucht von Teilen der organisierten Angestellten, sich als Teil einer Standesgesellschaft definieren zu wollen, die den Kleinbetrieb mit dem Sekretär vor Augen hat, der etwas besserer als die Arbeiter ist und dem Patron zudiente, ohne dessen Position je einnehmen zu können.

Die heutige Realität der Angestellten in der Schweiz ist anders: Sie kommen nicht mehr als spezieller Teil der Beschäftigen in der Industrie vor, sondern sind im privaten und staatlichen Dienstleistungsbereich verbreitet; sie bilden das Gros namentlich der schweizerischen Arbeitnehmer in urbanen Gebieten. Lohnmässig verdienen sie mindestens zwei Drittel des Durchschnittseinkommens, maximal aber das Anderthalbfache. Bildungsmässig differenzieren sie sich immer mehr, indem sie sich teils aus der Berufslehre kommend weitergebildet haben, um aufsteigen zu können, teils aus dem tertiären Bildungsbereich stammen, sich aber in die mainstream-Berufswelt integriert haben. Pensionierte Angestellte von heute zeigen noch klar bürgerliche Werte, solche mittleren Alters neigen zum politischen Zentrum, während die Jüngeren parteimässig offen sind und politisch experimentieren.

Das alles gilt nicht nur politisch, auch sozial, denn die typische Mittelschichtsfamilie mit ihrer herkömmlichen Rollenteilung zwischen Mann und Frau ist erheblich unter Druck geraten, wie auch der jüngste Sozialbericht Schweiz nahelegt: Vor allem bei tieferen Löhnen gibt es verbreitet Aengste, mit dem Einkommen das Leben nicht bestreiten zu können, und sieht man sich durch die Zuwanderung und damit verbundenen neuartigen Lebensweisen bedroht. Ersteres finden sich auch bei jüngeren, gekoppelt mit der Sorge, Krankheiten der Kinder oder Tod der Eltern würden das bisweilen labile Gleichgewicht in der Lebensführung zwischen Arbeit und Familie auseinander brechen lassen. Hinzu kommen auffällige regionale Unterschiede, geprägt durch die gesamtwirtschaftliche und –gesellschaftliche Entwicklungen. Nicht verzichten will man dabei verbreitet auf Statussymbole wie das Auto oder die Unterhaltungselektronik, im Grenzfall ist man aber bereit, keinen (weiteren) Nachwuchs zu haben, um beruflich und gesellschaftlich bestehen zu können.

Meiner Meinung nach ist das die Lebensbasis, von der eine Organisation wie „Angestellte Schweiz ihre Interessenvertretung in der Arbeitswelt und in der Politik ableiten sollte. Drei Thesen, die ich in der Podiumsdiskussion vorbrachte, sollen das zuspitzen:

Erstens, sie dürfen nicht Interessenvertretungen der etablierten Berufsleute sein, sondern sie müssen sich den Problemlagen der nachfolgenden Angestellten-Generationen annehmen.

Zweitens, sie müssen die Frage beantworten, mit wem sie gesellschaftlich und politisch Allianzen eingehen und mit wem nicht, und zwar so, dass sie dabei mehrheitsfähig werden. Die Antworten hierzu sind umso wichtiger, wenn man ein vergleichsweise kleiner Verband ist.

Und drittens, sie müssen nicht nur ihre Mitgliedschaft stärken; in erster Linie müssen sie ihre Oeffentlichkeitsarbeit entwickeln, um im Kampf um Aufmerksamkeit nicht unterzugehen, denn ohne den macht Interessenpolitik heute kaum mehr Sinn.

Claude Longchamp