Via Twitter fernsehen

Was fernsehen ist, weiss man gemeinhin. Was aus twittern wird, erahnt man langsam. Mein gestriges Experiment mit beiden Medien war für mich jedenfalls neu – und aufschlussreich. Eine Zusammenfassung mit Ausblick.

In der gestrigen “Arena” des Schweizer Fernsehens ging es unter der Leitung von Urs Wiedmer um den “Mythos Milizparlament“. Zuerst debattierte eine Runde PolitikerInnen, dann eine aus ExpertInnen. Ich war in der zweiten. Sendungen wie diese sind Live-Aufzeichnungen. Produziert werden sie in einem Stück, gesendet werden sie zeitverschoben. So kann man sich auch als TeilnehmerIn das Ganze ansehen.

Oder man kann sie auf Twitter verfolgen, genauso wie ich es gestern bei einem Bier in der Berner Markthalle machte. Ein TV-Gerät hatte ich nicht, nur mein iphone. Doch dieses rasselte fast ununterbrochen. 83 Reaktionen habe ich gestern erhalten, und an die 20 neue Follower kamen hinzu.

Angefangen hatte alles am Morgen. Mit einem Beitrag auf diesem Blog habe ich meinen “Arena”-Tag eröffnet. So teilte ich dem Moderator der Sendung mit, was meine Argumente sein würden. Indes, schon darauf gab es Reaktionen aus der Twitter-Szene.

Sascha Erni mobilisierte umgehend für mehr Assistenzstellen, die MilizpolitikerInnen entlasten sollten. Maja Hofmann erkundigte sich nach der Bodenhaftung von BerufspolitikerInnen, und Roger Altenburger fragte nach, wie man denkbare Entfernungen kompensieren könnte. Da habe ich mein BürgerInnen-Büro ins Spiel gebracht: MilizpolitikerInnen könne man nicht vorschreiben, was sie ausserhalb der Parlamentsarbeit machen müssen; von BerufspolitikerInnen dürfe man jedoch erwarten, dass sie einen Tag in der Woche kostenlos für Anliegen aus der Bürgerschaft eine lange “Sprechstunde” abhalten würden. So könnten sie ihre Bodenhaftung beweisen.

Alexander Limacher war gar nicht einverstanden mit der Stossrichtung meiner ganzen Argumentation, während Olivier Dolder sie erweitern wollte: Von überlasteten PolitikerInnen würden Dritte wie Verbände und Verwaltung profitieren, brachte er ein. Fritz Hostettler forderte ein Verbot von Verwaltungsratsmandaten für Gewählte, um Interessenskonflikte abzubauen.

An dieser Stelle meldeten sich Betroffene: Nationalrat Balthasar Glättli verlangte, das Volks-Nein von 1992 in Sachen Entschädigung und Unterstützung von der Schweizer Parlamentarier zu überdenken und die damaligen Vorschläge erneut einer Entscheidung zuzuführen. Claudio Kuster, Assistent von Ständerat Thomas Minder, hieb mehrfach in die gleiche Kerbe. Schliesslich mischten auch Journalisten mit: Joel Weibel ergänzte meine Ausführungen durch Ergebnisse einer Masterarbeit an der Uni Bern zum Stand der Professionalisierung von Kantonsparlamenten, und Alexander Sautter verbreitete seiner grossen Anhängerschaft, meine Ueberlegungen seien “interessant”.

Gegen Abend dann erinnerten verschiedene aus der Twitter-Gemeinde, was das Thema der Arena-Sendung sei, und kurz vor Handy-Löschen drückte mir die nähdrescherin (bewusst in minuskeln gschrieben) ganz fest ihre Daumen.

Nach der Sendung meldete ich mich bei der nähdrescherin zurück und meinte ohne konkret zu werden, die Sendung sei mir bisweilen wie Achterbahnfahren vorgekommen. Die Thurgauerin wiederum wollte wissen, ob ich Traubenzucker dabei gehabt habe und ob sie für sich Baldrian bereit halten solle. Ihre Kollegin Maja Hofmann fand das keine adäquate Prävention für schwierige Sendungen, für sich habe sie sich Wurfkissen bereit gelegt.

Der erste Kommentar zur laufenden Sendung kam von Sascha Erni, meinem informellen Outfit-Berater; grau-in-grau komme an, jedenfalls besser als die KLeiderwahl bei meinen letzten Auftritt. Ich war nachträglich erleichtert …

SRG-Journalist Konrad Weber nutzte die Aufmerksamkeit in der Twitter-Welt, um für die neue ArenaVorOrt Werbung zu machen; postwendend schloss sich mir Radio-Moderatorin Mona Vetsch als neue Followerin an. Alexander Limacher, am Morgen gar nicht auf meiner Seite, fand mein Werben für mehr festbezahlte MitarbeiterInnen der ParlamentarInnen nun “ein Weg, der sein könne”, damit die Gewählten sich “mehr für Schweizer einsetzen” würden, während er umherjetende ParlamentarierInnen für generell unnötig befand. Tania Woodhatch bemerkte als erste, es sei eine sehr emotionsgeladene Sendung, und gratulierte mir, gelassen geblieben zu sein. Journalist “nachdenkend” (Michael Soukup) verwies darauf, in Zug seien die PolitikerInnen nicht überlastet, denn dieses Jahr seien schon drei Sitzungen mangels Traktanden ausgefallen. Derweil karikierte Peter Stämpfli die Miliz im nationalen Parlament am Beispiel von Felix Gutzwiller, der Zeit habe, sich auf facebook mit seiner “Babe” zu vergnügen.

Ida warnte über meinen account Ruedi Lustenberger (kein Twitterer): “jtz wirsch emotional”. Zur Sache sprach dann Nationalrätin Jacqueline Badran, die Politik sei von Verbänden abhängig von Verbänden, denn sie bestünde aus diesen. Alexander Limacher widersprach mir erneut, diesmal wegen der geforderten Amtszeitbeschränkung, denn damit würde man “einen wirklich guten Parli” (Blocher?) rausschmeissen müssen.

Die Kommentare zum Schluss dienten der Bilanz. Andreas Lüthi schloss, von einer Ausnahme abgesehen bei mir den schlüssigsten Ansatz zur Problemlösung gehört zu haben. Fritz Hostettler meinte, mein “Ging” an die Sesselkleber sei gesessen, während Maja Hofmann zugab, ihre Wurfkissen schliesslich nicht eingesetzt zu haben. Sascha Erni fragte sich und mich, weshalb man eine Sendung lang meine Kritik, in der Schweiz weder ein Berufs- noch ein Milizparlament, sondern gemäss offizieller Selbstdarstellung ein “Halbberufsparlament” zu haben, schon im Ansatz negiert habe. sWalterli empfahl mich schliesslich als Nationalchoach für’s Parlament, was mich freute (*).

Ich gebe zu, die Kommentare zur Arena auf der Online-Plattform des Sendegefässes habe ich nicht oft gelesen. Das ist mir zu wirr und bisweilen auch zu weit unter der Gürtellinie. Die gestrige Twitter-Diskussion vor, während und kurz nach der Sendung hob sich davon vorteilhaft ab. Harmonisch war sie nicht, beleidigend aber auch nicht. Ich habe mehr erfahren, als aus dem meisten Reaktionen früherer Sendungen, die ich regelmässig auf der Strasse oder im Freundes- und Arbeitskreis erhalte. Man hat auch die Dynamik der Sendung gut mitbekommen, mit dem fulminanten Start, dem Hänger in der Mitte und der Sachdiskussion zum Schluss. Dafür danke ich hier allen, die sich gemeldet haben, egal ob ich sie hier explizit zitiert oder mitgemeint habe.

Vielleicht ist das auch die Zukunft des Fernsehens, wie sie unter Social-TV diskutiert wird: dass eine Sendung läuft und Oeffentlichkeit herstellt und dass die Teilnehmenden nicht mehr einfache ZuschauerInnen bleiben wollen, sondern mit ihrer Aktivität ihrerseits Oeffentlichkeit bilden, um den gesamten Kommunikationsprozess einer Live-Veröffentichung zu spiegeln. Heini Rogenmoser ging in diese Richtung, wenn er nach der Senung zwitscherte, Twitter ins Fernsehprogramm aufzunehmen. Nach den ersten Erfahrungen bei den “Treffpunkt Bundesplatz” Sendungen denke ich nicht, dass das im Sinne von Einblendern im unteren TV-Fenster der Fall sein wird. Wer jedoch via Internet fernsehen wird, dürfte bald schon links das Bild und rechts die Diskussionen hierzu auf Twitter verfolgen können.

Damit wäre dann mein gestriger Hinweis ein (für mich) neuartiges Experiment schon wieder obselt, denn ich schrieb: “Speziell: eine Sendung via Twitter zu verfolgen, keinen TV vor sich zu haben, und genau zu wissen, um was es geht, weil man dabei war #Arena.”

Claude Longchamp