“Mythos Milizparlament”: Meine Argumente zur heutigen “Arena”

Nach den Prinzipien der Miliz funktioniert das Bundesparlament längst nicht mehr. Dafür wäre auch der heutige Verdienst der PolitikerInnen hoch. Die Schweiz hat auf Bundesebene auch kein Berufsparlament. Denn dafür hätten die Volks- und KantonsvertreterInnen zu wenig frei verfügbare Zeit, um richtig Politisieren zu können. Mein Plädoyer für einen Ausweg aus dem Dilemma.

Die beiden PolitikwissenschafterInnen Simon Hug und Sarah Bütikofer publizierten Mitte 2010 die bisher letzte Bestandesaufnahme zu den Belastungen der National- und StänderätInnen. Ein Nationalratsmandat entspricht demnach einem 57 Prozent-Job; ein Sitz im Ständerat bringt einen Arbeitsaufwand von 67 Prozent mit sich. Im Vergleich zu einer Erhebung vor gut 30 Jahre veränderte sich im Nationalrat recht wenig, während die höhere Zeitbeanspruchung als StänderätIn in den letzten drei Jahrzehnten entstanden ist. In der 46köpfigen Kleinen Kammer lassen sich die Veränderungen parteiübergreifend beobachten, deweil im Nationalrat die Grösse der Fraktion eine Rolle spielt: Mitglieder kleiner und mittlerer Fraktionen sind zeitlich stärker beansprucht; jene der grösseren haben sich besser arrangiert. Eine der am häufigsten genannten Gründe für die Inanspruchnahme besteht in der Kommissionsarbeit. Sie ist durch Kommissionen mit festen Tagungsrhythmen gründlicher aber aufwendiger geworden. Gearbeitet wird vermehrt mehr hinter verschlossenen Türen, während sich die Debattenzeit im Plenum nun unwesentlich verändert hat.

Vielleicht, kann man über die Faktenlage hinaus mindestens spekulieren, ist auch das Umfeld anders geworden: Die Massenmedien sind permanent präsent, an Sonntagen, ja, überhaupt bald zu jeder Tages- und Nachtzeit, und sie wollen etwas von den PolitikerInnen, wenn sie es als JournalistIn für richtig erachten. Mindestens aus Zwiegespräche mit ParlamentarierInnen weiss ich, dass gerade das den Druck auf ihre Arbeit, aber auch ihr Leben erhöht hat. Professionalisiert hat sich zudem die Verbandsarbeit, häufig eine der wichtigen (Wieder)Wahlbasen für MilizpolitikerInnen. Vorstandmitgliedschaften in Interessengruppen werden mehr und mehr mit Erwartungen verknüpft, als PolitikerInnen nicht nur Volk und Kanton zu vertreten, sondern auch Partikulärinteressen.

Kompensiert werden kann dies immer seltener durch Arbeitgeber, die sich auf hohe Loblied auf die Demokratie verpflichten liessen. Vielmehr kommen Phänomene wie Dichte-Stress gerade auch am Arbeitsplatz vor, verlangen eine gesteigerte Präsenz oder Aufmerksamkeit, was die Abkömmlichkeit für Nebenämter erschwert. Der Fall “Moergeli lässt grüssen! Einzelne Berufsgruppe spürten das schneller als andere und verschwanden als erste aus dem Parlament. So gibt es im Nationalrat kaum mehr ArbeiterInnen, dafür sind Berufsgruppen, für die sich Politik lohnt von Bauersleute über Juristen bis zu VerbandsfunktionärInnen im Bundeshaus übervertreten.

Die Reaktionen auf diese Entwicklung sind unterschiedlich: Einzelne ParlamentarierInnen kommen mit dem Zwiespalt gut zu recht, andere nicht. Dass BundesparlamentarierInnen beruflich arbeitslos werden, ist zwar noch ein Tabu, aber keine ganz grosse Ausnahme mehr. Andere leiden physisch oder psychisch; Herzinfarkte, Schwächeanfälle und Burnouts gehören zwischenzeitlich zu den häufiger vorkommenden Begleiterscheinungen des ParlamentarierInnen-Daseins. Gleiches gilt für Scheidungen, wenn öffentliches und privates Leben nicht mehr in Einklang gebracht werden können.

Wer es sich leisten kann, als Reicher ohne wirkliche Geldsorgen Bundespolitik betreiben zu können, der empfiehlt den Schritt zurück in heile Welten, zu denen das Milizparlament zählt. Andere sind fürs Durchstarten zum Berufsparlament, mit dem man einen Teil seines Arbeitslebens voll und ganz der Politik widmet. Was im Ausland in Parlamenten des Nationalstaates die Regel ist, bleibt in der Schweiz indes fast querbeet zum Parteienspektrum verpönt, wie die letzte diesbezügliche Abstimmung im Nationalrat zeigte. Doch das ist kein abschliessender Gradmesser, was sinnvoll ist und was nicht, denn die ParlamentarierInnen entschieden hier in eigener Sache.

Generell sehe ich zwei Auswege: Die Verstärkung der Infrastruktur für ParlamentarierInnen mit MitarbeiterInnen, sodass sie zwischen Wichtigem und Unwichtigem trennen können, oder ein weitere Schritt zur Professionalisierung, damit PolitikerInnen wieder PolitikerInnen sein können. Erstes haben die StimmbürgerInnen 1992 abgelehnt, sodass diese Entwicklungsmöglichkeit blockiert ist. Zweiteres ist kaum populärer, wohl aber unausweichlich.

Und so breche ich hier eine Lanze für ein professionalisiertes Bundesparlament! Faktisch haben wir es im Ständerat teilweise, während im Nationalrat die Halbberufsarbeit dominiert. Das meine ich nicht nur für die Institutionen, ich sehe es durchaus auf der Ebene ihrer Mitglieder so. Ständerat Alain Berset stand bei seiner Wahl in den Bundesrat dazu, ein Berufspolitiker zu sein, und andere haben sich seither geoutet.

Wenn die Anforderungen ans Parlament aus aussen- und innenpolitischen Gründen immer mehr steigen, braucht es es einen Schritt, der mehr Raum für Politik schafft, gefüllt durch PolitikerInnen, wie wir sie in den Kantonsregierungen oder als Stadt- teilweise auch als GemeindepräsidentInnen schon kennen. Drei Vorteile sehe ich in diesem Schritt:

. Anständig bezahlt, gleichzeitig aber auch der res publica verpflichtet, sollen sie Gewählte ohne permanente Zeit- und Geldsorgen arbeite können.
. Kompetenter sollten sie zudem sein und sich nicht schämen müssen, wenn sie sich auch als ParlamentarInnen weiterbilden, sei es in internationalem Finanzmarktrechts oder um ihre Online-Fertigkeiten auf den Stand zu bringen.
. Fordern kann man von BerufspolitikerInnen auch eine verbesserte Vernetzung, um in Zeit des raschen internationalen Wandel nicht periodisch von verkannten Entwicklungen ausserhalb der Schweiz überrascht zu werden.

Meines Erachtens stärkt man so das freie Mandat, und unterhölt man es nicht. Denn von einem Berufsparlament kann erwarten, dass sie Zeit ausserhalb des Parlamentes für Kontakte mit der Bürgergesellschaft einsetzen, und nicht, um einträglichen Geschäften nachzugehen oder sich mit Tricks bereichern zu wollen. Gleichzeitig bin ich der Meinung, dass zwischen den Aufgaben ein der Politik und den Interessen des Lobbyings besser getrennt werden muss. Das Problem sind nicht die Interessen, die von der Politik etwas wollen. Das heutige Problem ist, dass im Milizparlament die Lobbyisten selber in Plenum und in den Kommissionen sitzen und über das Abstimmen können, was sie betrifft.

Das Milizparlament hat sich auf Stadt- und Kantonsebene weitgehend bewährt, daran würde ich nichts ändern wollen. Auf Bundesebene gehört das festhalten am Milizprinzip zu den Mythen, welche die Schweiz beherrschen – und dies alles andere als zu ihrem Vorteil.

Claude Longchamp