Mein Master-Seminar an der Uni Bern ist diese Woche richtig in Fahrt gekommen. Hier der Stand unserer Ueberlegungen zur Neuausrichtung der Abstimmungsforschung (in der Schweiz).
Zu meiner Studienzeit dominierten Makrotheorien die Sozialwissenschaften. Niklas Luhmann forderte mit seiner allgemein gehaltenen Systemtheorie mehr oder weniger alle heraus. Systembetrachtungen beherrschten auch die Politikwissenschaft: polity-, politics- und policy-Dimensionen des Politischen waren die Stichworte hierzu. In den Diskussionen mit meinen heutigen Studierenden wird immer wieder bewusst, wie stark sich das alles geändert hat. Denn ihre Herangehensweise neue Fragen wird durch Mikro-Theorien bestimmt ist, die aus der Oekonomie oder Psychologie stammen und individuelles Handeln analysieren.
James Coleman hat in seiner Grundlegung der Sozialtheorie, zu Beginn der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts auf Deutsch erschienen, das Verhältnis beider Perspektiven erörtert und hierfür das einprägsame Bild der Badewanne bestimmt. Er postulierte, es werde einen Erkenntnisgewinn in den Sozialwissenschaften geben, wenn man Phänomene auf der Makro-Ebene auf der Mikro-Ebene untersuche. In vielem sollte der Protagonist des methodologischen Individualismus Recht bekommen.
Quelle: James Coleman, Einführung in die Sozialtheorie (Grafik anclicken, um sie zu vergrössern)
Aber nicht in allem!
Denn mit der Vielzahl von Studien zu Entscheidungen oder Handlungen von Akteuren beispielsweise in der Politik, sind fast ebenso viele neue Datensätze entstanden: Umfragen bei BürgerInnen, Datenbanken zum Stimmverhalten von PolitikerInnen gehören ebenso dazu, wie die Positionierung von Parteien, Verbänden und Medien zu anstehenden Beschlüssen. Sie bieten ein unershlossenes Forschungspotential. wenn man sie neu verwendet. Anstatt Akteure als “Fälle” zu betrachten, kann man auch Entscheidungen als Untersuchungseinheit bestimmen. Dann geht es nicht um Erklärungsmodell des Aktuershandeln, sondern um solche der Entscheidung selber.
Wem das zu abstrakt ist, folge nachstehendem Beispiel: Befragt man BürgerInnen zu Abstimmungsentscheidungen, findet man fast immer einen positiven Zusammenhang zwischen Informiertheit zu einer Vorlage und der Zustimmung(sbereitschaft) zu dieser, wenn sie von der Regierung stammt. Negativ formuliert heisst das: Wer sich in einer Sache nicht informiert oder überfordert fühlt, der stimmt mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit gegen die Sache! Indes, was auf Bürger-Ebene recht gut belegt ist, ist auf Gesellschafts-Ebene noch schlecht erforscht. Denn es stellt sich die Frage, ob die ausgebaute Information durch Behörden und Medien vor einer Entscheidung diese positive beeinlfusst oder nicht.
Nun gibt es Hinweise dafür, dass das nicht sein muss. Die Medieninformation hängt vom erwarteten Konfliktgrad ab, wobei die intensivere Beschäftigung der Massenmedien mit solchen Themen das Mass an Konflikt eher erhöht als senkt. Mehr Information auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene muss deshalb nicht zu mehr Zustimmung insgesamt führen. Es kann sehr wohl sein, dass informierte BürgerInnen stets mehr die Regierung stützen als nichtinformierte, und das für mehr oder minder jedes Zustimmungsniveau gilt. Der letzte Abstimmungssonntag in der Schweiz verstärkte diese Vermutung in mir: So wurde über den Schutz des Passivrauchens am meisten geschrieben und gesprochen, und die Initiative ging, je länger die Debatte dauerte, immer mehr unter, während die Jugendmusikförderung kaum zu einer öffentliche Auseinandersetzung führte – und glatt angenommen wurde. Deshalb lohnt es sich, Fragen auf individuellem wie auf kollektivem Niveau separat zu untersuchen.
Dafür hat sich die Forschungslandschaft zu Volksabstimmungen in der Schweiz in den letzten Jahren erheblich verändert. Zahlreiche Datenbanken oder Informationsquellen sind entstanden, die im Verbund noch kaum analysiert worden sind. Genau diese grosse Lücke der Forschung will ich mit meinem Master-Seminar an der Uni Bern zu “Meinungsbildung bei Volksabstimmungen” schliessen helfen. Ausgangspunkt bildet dabei die elektronische Uebersicht, welche SwissVotes über die Ergebnisse der mehr als 500 Volksabstimmungen in der Schweiz bietet. Erklärungsmodelle können damit bis jetzt aber nur wenige getestet werden, konkret eigentlich nur der Zusammenhang zwischen Parteien/Verbände-Konflikt und Annahme/Ablehnungschancen einer Vorlage. Das liesse sich aber locker erweitern, wenn man die SwissVotes-Datenbank mit anderen Informationsquellen kombiniert – zum Beispiel mit der VOX-Datenbank, den Nachanalysen von Volksasbtimmungen auf Befragungsbasis, mit den Ergebnisse nder SRG-Vorbefragungen zum Stand der Meinungsbildung 3 resp. 7 Wochen vor einer Abstimmung oder mit den Auswertungen, die Politnetz beispielsweise zu den Entscheidungen im Parlament zulässt.
Spannend wird das vor allem dann, wenn man die genannten Zusatzinformationen nicht auf der individuellen Ebene verwendet, sondern auf der kollektiven einfügt. So kann man untersuchen, ob Initiativen oder Referenden eher durchkommen, wenn der Parteienkonflikt gering oder stark ist, wenn die Fraktionen der Regierungsparteien geschlossen resp. gespalten sind, wenn es zwischen Partei-Eliten und -Basen grosse oder kleine Unterschiede gibt, wenn sprachregional einheitliche oder spezifischen Kampagnen gefahren werden, wenn … Die neuen Möglichkeiten sind schier unbegrenzt!
Das entspricht genau dem Vorgehen, das die Colemansche Badewanne schliesst. Ich halte das sogar für die erfolgversprechendste neue Ausrichtung der Abstimmungsforschung gerade in der Schweiz, weil nur hierzulande genügend Fälle und Studien zu Volksentscheidungen vorliegen, welche solch übergreifende Tests überhaupt erst ermöglichen. Oder anders gesagt, die neuartige Analyse mikroanalytischer Untersuchungen wird es uns erlauben, neuartige makroanalytische Einsichten zu gewinnen.
Claude Longchamp
Im Grundsatz stimme ich Ihnen völlig zu. Ich finde auch, dass die politikwissenschaftlichen Analysen spannender sind, welche die Kollektivebene umfassend einbeziehen und sich nicht auf die Mikroebene beschränken.
Das von Ihnen gewählte Beispiel illustriert aber auch gerade die Tücken der Analyse auf der Makroebene. Sie gehen davon aus, dass eine starke Kampagne vor allem die Informiertheit der Stimmenden beeinflusst. Die politischen Eliten verfolgen mit ihren Kampagnen allerdings primär das Ziel, Zustimmung zu ihrer Position zu generieren. Hierzu werden gewisse Aspekt der Vorlage in Zentrum gerückt und mit Deutungsrahmen versehen, welche die Akzeptanz oder Ablehnung beeinflussen. Ein gutes Beispiel sind die von uns untersuchten kantonalen Abstimmungen zu Harmos: Durch die öffentliche Kampagne wurde aus einer eher technokratischen, relativ umbestrittenen Harmonisierungsvorlage in den Parlamenten ein in vielen Kantonen hochumstrittenes Volksverdikt über die Rolle der Familie bei der Kindererziehung. Auch beim Schutz vor Passivrauchen dürfte wohl die Zustimmung zu den zentralen “Frames” der Gegnerschaft für den Stimmentscheid wichtiger gewesen sein als die Informiertheit einer Person.
Bei Ihrem Beispiel lässt sich der Mikro-Zusammenhang vor allem deshalb auf der Makro-Ebene nicht finden, weil das Stimmverhalten im Aggregat das Resultat eines komplexen Zusammenspiels verschiedener Makro-Mikro-Zusammenhängen darstellt.
Den Artikel kann man auch ohne Beispiel lesen, das habe ich nur eingeführt, nachdem mir das Ganze korrekt, aber zu abstrakt erschien! Wichtig ist mir, Studierenden die neue Forschungsausrichtung beizubringen, nicht das Beispiel selbst.
Zu diesem: Auch ich bin der Auffassung, dass man aus der Uebertragung von gut belegten Sachverhalten auf der individuellen Ebene meist wenig gewinnt, um die Entscheidung als solche direkt zu erklären! Indes, es wird (implizit wenigstens) häufig gemacht …
Deshalb schlage ich ja vor, beide Ebenen separat zu untersuchen, jedoch als unabhängige Variablen zur Erklärung von Entscheidungen nicht nur Makro-Daten zu verwenden, sondern auch reaggregierte Informationen, die auf individueller Ebene gewonnen wurden.
Denn davon haben wir zwischenzeitlich sehr viele – wenigstens in der Schweiz!
[…] forscherInnen zu belustigen. vielmehr wollte ich sie nochmals darauf aufmerksam machen, was die zielsetzung unseres seminars ist. denn wir beschäftigen uns mit erklärungen der meinungsbildung bei volksabstimmungen. […]