Weiter an der Referendumsfähigkeit arbeiten

Meine Kurzanalyse der grössten Einzelgewerkschaft in der Schweiz für die Zeitung “work”.

Mit der Fusion zur Unia entstand die mit Abstand grösste branchenübergreifende Gewerkschaft, deren erklärtes Ziel es ist, die Kräfteverhältnisse innerhalb der Arbeitswelt zugunsten der Arbeitnehmenden zu verändern. Dazu gehört auch, sich für eine soziale und gerechte Gesellschaft politisch zu engagieren.

Wenn die Politikwissenschaft die Macht politischer Akteure zu beurteilen hat, greift sie in der Schweiz gerne auf die Referendumsfähigkeit zurück. Gemeint ist damit, in der Lage zu sein, in Kürze 50 000 Unterschriften zu sammeln, öffentliche Kampagnen zu führen und Volksabstimmungen zu gewinnen.
Das Herzstück der Referendumsfähigkeit ist das Veto gegen Parlamentsbeschlüsse. Wer das mit Erfolg demonstrieren kann, hat seine Verweigerungsmacht bewiesen und kann damit an anderen Orten drohen. Denn kein Parlament will nach Jahren der Gesetzesarbeit eine Volksabstimmung verlieren. Also besteht die Tendenz, sich mit referendumsfähigen Organisationen frühzeitig zu arrangieren.
Seit der Gründung der Unia haben die Gewerkschaften ihre Referendumsfähigkeit zwei Mal eindrücklich bewiesen: 2004 bei der 11. AHVRevision, 2010 bei der BVG-Revision. Die AHV-Revision scheiterte mit 68 Prozent Nein, die BVG-Reform mit rekordverdächtigen 73 Prozent. Ähnlich beurteilt werden kann die Mietrechtsrevision 2004, wo sich die Gewerkschaften Seite an Seite mit den MieterInnenverbänden durchsetzten.
Die Bilanz wäre jedoch unvollständig, würde man es dabei bewenden lassen. Denn in weiteren sechs Referendumsabstimmung versagten die Gewerkschaften mit ihrem Aufruf zum Widerspruch. 2006 bei der Arbeitsgesetzrevision, dem Ausländer- und dem Asylgesetz, 2008 bei der 5. IV-Revision und der Unternehmenssteuerreform und 2010 bei der Arbeitslosenrevision. Das alles relativiert die Referendumsfähigkeit der Schweizer Gewerkschaften erheblich. Auf den Punkt gebracht: Das Veto in sozialpolitischen Kernfragen gelingt in der Hälfte der Fälle. In wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Fragen ist die Bilanz indes negativer.
Mein Schluss: Die Gewerkschaften – und damit die Unia – müssen an ihrer Fähigkeit, Referendumsabstimmungen zu gewinnen, weiterarbeiten. Was in zentralen Fragen gelingt, lässt sich jedoch nicht einfach verallgemeinern. Weniger häufiger Widerstand, dann jedoch mit vehementem Einsatz, scheint mir die richtige Folgerung aus dieser Übersicht zu sein. So könnte die Unia ihre politische Macht stärken, und zum Vorteil bei den Anliegen der Arbeitnehmenden einsetzen.

Claude Longchamp