Trendbefragungen: zwischen Momentaufnahmen und Prognosen

Ich habe mehrfach kritisch Stellung bezogen, Vorbefragungen zu Abstimmung seien per se Prognosen. Zu recht, ist immer noch meine Überzeugung. Allerdings gibt es zwischen Prognosen und Momentaufnahmen einen Graubereich, indem wir uns meiner Meinung nach mit Trendbefragungen befinden. Eine Klärung, was Sache ist.

Das ist die alte Vorstellung: Man macht zu irgendeinem Zeitpunkt eine Umfrage zu einer Abstimmung, und man weiss, wie sie ausgeht. Das stimmt so mit Sicherheit nicht. Denn es setzt voraus, alle BürgerInnen hätten zu jedem Zeitpunkt in jeder Sachfrage eine ganz genaue Meinung, nach der sie stimmen. An dieser Annahme stimmt in dieser Absolutheit so ziemlich nichts.

Die bisherige Gegenposition lautet: Eine Umfrage zu einer Abstimmung ist eine reine Momentaufnahme – mehr nicht. Die erste Hälfte der Aussage stimmt, während wir die zweite immer mehr relativieren können.

Ausgangslage
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Vorbefragungen im Zeitfenster rund 50 Tage vor einer Abstimmung legen die Ausgangslage für die Pro und Kontra-Seite offen. Das ist schon mal was. Die Vielzahl an Umfragen, die wir seit mehr als 10 Jahren für die SRG realisiert haben, erlaubt es uns, darüber hinaus wahrscheinliche resp. mögliche Verläufe der Meinungsbildung zu formulieren.

Punktgenaue Prognose sind das, ohne vorhergehende Kenntnisse über Kampagnen, Interaktionen der Komitees und Mobilisierungsanstrengungen definitiv nicht. Es lassen sich aber Einschätzungen machen, in welchen Bereichen Ergebnissen höchst wahrscheinlich zu liegen kommen.

Am einfachsten zu formulieren ist die Erwartung zur Teilnahmeabsicht. Auf Dauer nicht sie in den letzten 7 Wochen vor einem Abstimmungstag im Schnitt um 5 Prozentpunkte und erreicht sie eine mittleren Teilnahmewert von 44 Prozent. Allerdings gibt es eine Varianz. Die Zusatzmobilisierung kann bisweilen auch ausbleiben; sie kann auch bis zu 10 Prozentpunkte ausmachen.

Bei Initiativen kennen wir den Verlauf der Stimmabsichten während dieser Frist ebenfalls recht gut. Die Ablehnung nimmt fast immer zu, die Zustimmung fast immer ab. Im Mittel steigt Ersteres um 24 Prozentpunkte, während sich zweiteres um 10 Punkte verringert. Auch hier gibt es eine Varianz, die vom Mass der Unschlüssigkeit resp. der tendenziellen Befürwortung abhängt. So kann der Nein-Anteil im Extremfall auch mal 35 Prozentpunkte zunehmen, und der Ja-Wert kann sich bis zu 20 Prozentpunkten verringert. Über die Gründe hierfür muss im Moment spekuliert werden.

Am schwierigsten bleibt es, Trenderwartungen bei Behördenvorlagen zu formulieren. Im Normalfall lautet das wahrscheinlichste Szenario: Unschlüssige verteilen sich auf Ja- und Nein-Seite, wobei es keine im Voraus festlegbare Regel gibt, im welchem Verhältnis das geschieht. Im Ausnahmefall kann Ein Szenario eintreffen, wie wir es üblicherweise von Initiativen kennen; nämlich dass die Zustimmungsbereitschaft sinkt. Der Grund ist hier gut bekannt. Diesen Trend erwarten wir immer dann, wenn die parlamentarische Allianz im Abstimmungskampf durch Umpositionierungen von Parteien zerfällt. Über das Ausmass aber kann man nur spekulieren.

Das alles hat eine Konsequenz. Der Ja-Anteil in (frühen) Vorbefragungen ist der geeignetere Wert, um richtige Trenderwartungen zu formulieren.

Die Tabelle in diesem Beitrag ist entsprechend aufgebaut. Sie unterscheidet zwischen Initiativen und Behördenvorlagen, und sie zeigt, in welchem Masse Meinungswandel zwischen der ersten Vorbefragung und dem Abstimmungstag stattgefunden hat. Sie beschränkt sich auf unsere SRG-Befragungen aus dem laufenden Jahr – und ist dennoch etwas vom besten, wie man mittels Trendbefragungen falsche Erwartungen einschränken und richtige für die Zukunft vermehren kann!

> Dispositionsansatz zur Analyse von Vorbefragungen zu Volksabstimmungen

Claude Longchamp