Konkordanz-Interpretationen im Wandel

Die Rauchzeichen bei und nach der Wahl von Ueli Maurer als Nachfolger von Samuel Schmid im Bundesrat sind verflogen. Doch bleibt die Problematik bestehen, welche die jüngste Bundesratswahl prägte. Im Kern geht es um die Frage, mit welchem Ziel und nach welchen Regeln der Bundesrat inskünftig zusammengesetzt werden soll? Eine Auslegeordnung von Antworten.


“Wie weiter mit Bundesratswahlen?” ist eine der zentralen Fragen für das Jahr 2009

Die Kontroverse
Die gestrige NZZ nimmt sich diesem für das politsichen System zentralen Thema mit einer Spezialseite an, auf der die Politikwissenschafter Wolf Linder und Pascal Sciarini die Argumente ausbreiten, die mehr- und minderheitlich unter den Politologen vertreten werden, die nicht in der Volkswahl des Bundesrates die Lösung sehen.

In einem Punkt sind sich beide Autoren einig: Die schweizerischen Parteienlandschaft ist in Bewegung, und mit ihr ist auch die Stabilität der Regierungsbildung auf Bundesebene ins Rutschen geraten. Die rein arithemtische Definition der Bundesratszusammensetzung genügt dabei nicht, eine prospektiv überzeugende neue Formel zu sein. Darüber hinaus gingen die Positionen aber auseinander.

Der Mehrheitsstandpunkt

Wolf Linder bezeichnet den heutigen Stand als “Verflüssigung” des schweizerischen politischen Systems. Die Lösung ortet er nicht in einer generellen Reform des Wahlverfahrens, aber in der Eliminierung seiner gröbsten Schwächen. Im Ansatz epfiehlt er, was Christa Markwalder, Berner FDP-Nationalrätin 2007 im Parlament zur Diskussion stellte, dafür aber keine Mehrheit fand.

Vorgeschlagen wird deshalb, von den geheim abgehaltenen Einzelwahlen für jedes Mitglied des Bundesrates abzukommen, dafür aber über eine oder mehrere transparente Siebner-Listen abzustimmen. Die Zusammensetzung solcherListen müsste gewährleisten, dass ein Team der Besten entstehe. Eine Koalitionsvereinbarung hält er aufgrund ausländischer Erfahrugnen nicht für nötig. Teilabsprachen unter den Parteien, die in einem Politikbereicht eine mehrheitsfähige Allianz bilden wollen, würden reichen, um die politische Konkordanz gegenüber der arithmetischen zu sichern, die Schwächen des jetzigen Verfahrens aber auszuschalten.

Der Minderheitsstandpunkt
Pascal Sciarini hält das für “Zauberformel-Nostalgie”. Die grosse Konkordanz sei seit den 90er Jahren “klinisch tot”, denn die Regierungszugehörigkeit verhindere nicht mehr, dass sich insbesondere Parteien wie die SVP und SP von der Regierungsposition verabschieden würden. Die variable Geometrie der Kräfte, die daraus resultiere, führe nicht zu einer genügenden Regierungskohörenz, die angesichts der wirtschaftlichen Herausforderungen aber gefragter denn je sei.

Deshalb gibt es für Sciarini nur einen Ausweg: Die Erwartungen an die Konkordanz zu reduzieren und Regierungsallianzen unter Ausschluss von SP oder SVP zu bilden. Nur so könne die Aktionsfähigkeit des Bundesrates als Ganzes wieder erhöht werden. Das stärkste Argument der Schweizer Politologen, das dagegen jewels vorgebracht wird, hält er für hzwischenzeitlich widerlegt. Es betrifft den Konkordanzzwang durch die direkte Demokratie. Denn die “kleine Opposition” der SVP 2008 habe gezeigt, dass die Regierungsarbeit durch Referenden und Initiativen nicht einfach blockeirt werde. Die SVP sei am 1. Juni 2008 mit ihrer dreifachen Opposition dreifach gescheitert, nicht die Regierungsallianz aus SP, CVP, FDP und BDP.

Zur Zukunft politologischer Konkordanz-Interpretationen
Sciarini weiss allerdings, dass er mit seiner Leseweise auch unter den Politikwissenschaftern in der Minderheit ist. Sein Modell stuft er selber noch nicht als valable Alternative zum Mainstream-Modell ein. Es hält es aber für eine Idee, die langsam aber sicher an Akzeptanz gewinne. Damit spricht er auch an, was man bei der Lektüre der Spezialseite der NZZ auf jeder Zeil merkt: Die Konkordanzinterpretation der Schweizer Politologen verflüssigen sich selber, ohne dass sie bereits eine neue klar ausgeprägt Form gefunden hätten.

Linder, der scheidende Direktor des politikwissenschaftlichen Instituts der Universität Bern, hat zwar noch die Ueberhand, doch läuft ihm die Realität Schritt für Schritt davon. Sciarini, Direktor des analogen Instituts an der Universität Genf, dürfte davon profitieren, hat aber noch keine so klare Vision entwickelt, die die griffig genug wäre, um die Politik zu überzeugen.

Claude Longchamp