“Uri von aussen gesehen”

Vielleicht ist genau das das Problem: Wie bei jedem anderen Kanton kann man auch bei Uri kaum mehr sauber zwischen innen und aussen unterscheiden.

9. März 2012: Ich referiere am Seminar der (damaligen) Urner Regierung. Es geht um die kuenftige, lebenswichtige Vernetzung des Kantons in Bundesbern. Wir sind im Rathaus zu Altdorf versammelt. Draussen wacht (in Form einer imposanten Statue) Wilhlem Tell, während drinnen im Tagungslokal alle Banner aus den bedeutsamen Schlachten seit 1315 ueber uns thronen.


Umgeben von der (damaligen) Urner Regierung (dritter von rechts); nicht auf dem Bild RR Heidi Z`Graggen (wegen Krankheit abwesend)

18. Juli 2012: Helen Bussmann, Journalistin aus dem Urnerland, fragt mich fuer ein Interview ueber “Uri von aussen” an. Das ist zunächst eine Serie, die sie fuer die lokale Presse realisiert. Es ist aber auch das Bemuehen, den Leserschaft eine Sicht durch Dritte – Nicht-UrnerInnen zu vermitteln.

Nun ist richtig: Selbst- und Fremdbilder müssen nicht identisch sein. Identität entsteht nur dann, wenn sie verschmelzen. Reine Selbstbilder liefern das nicht, reine Fremdbilder ebenso wenig.

Genau deshalb ist auch eine Trennung von innen und aussen problematisch. Sicher, rein äusserlich gesehen werden die Anfänge des Reusstals durch hohe Berge bestimmt, welche die BewohnerInnen in 3 der 4 Himmelsrichtungen abschirmen. Doch schon bei den 5 Pässen, ausgehend vom Urnerland, ist es fertig damit. Denn die Strassen, die Tunnels verbinden, was die Bergkämme trennen.

Meine These ist, dass genau das Problem von Uri ist: die Inszenierung der Abgeschiedenheit, wo längst alles verbunden ist. Auch wenn Bernhard Russi aus Andermatt stammt, der Olympiasieger und Weltmeister ist der moderne Bannerträger aus dem Urnerland, geschmückt mit Medaillen, Brillen und Fahrzeugen aus allen allen Herren Länder für alle Herren Länder. Und sollte Samih Sawaris Ressorts dereinst Neu-Andermatt begründen, wenn die Leute von fast überall aus der Welt nach Uri kommen, um dort zu leben oder ein paar Ferientage zu verbringen.

Den SchweizerInnen sind markante PolitikerInnen wie Franz Steinegger oder Gaby Huber längst ein Begriff; trotz ihres Urner Hintergrundes haben sie einen festen Platz in der nationalen Politik gefunden. Und diese hat sich, spätestens mit der Neat-Politik, tief in die einheimische Gesellschaft eingenistet. Adolph Ogi, aber auch Moritz Leuenberger und neuerdings Doris Leuthard sind Schweizer BundesrätInnen, die den Gang der Dinge im Bergkanton Uri erheblich mitbestimmen.

Ueberhaupt, Verkehr und Tourismus sind die zentralen Elemente des Lebens im obersten Reusstal. Manche Menschen kommen, um gleich wieder zu gehen, denn nur die perfekte Transitmöglichkeit interessiert sie, während andere kommen, um zu bleiben und etwas zentralschweizeriche Kultur zu geniessen.

Davon lebt der Kanton Uri, und er leidet auch darunter. Das wissen die UrnerInnen von sich selber, spätestens seit der Gotthard-Tunnel gebaut wurde, und es wissen es auch die SchweizerInnen, mindestens seit sie mit der Alpen-Initiative eine verkehrspolitische Weichenstellung vorgenommen haben.

Wer weiss, die einsetzende Diskussion ueber eine zweite Gotthard-Röhre wird ueber die sinnvolle Verknuepfung von Uri, Schweiz und Europa noch viel zu reden geben. Formal geht es um 1077 km2 Land, faktisch um verkehrspolitische Effizienz einerseits, Bewahrung von Lebensraum anderseits. Vielleicht geht es um Urner Autonomie, gelebt in den Gemeinden und Korporationen mit mittelalterlichem Ursprung, sicher aber auch um Zusammenhänge, die irgendwo zwischen Bruessel und Bern definiert und mit TCS und WWF ausgehandelt werden muessen. Und es geht um Geld, viel Geld, das andere Kantone und der Bund beispielsweise ueber den Neuen Finanzausgleich in Uri investieren, ohne dabei in die im Urnerland leidlich verhasste Attituede zu verfallen, wer bezahle befehle auch gleich.

Selbst- und Fremdbild verschmelzen zu einer Identität, wenn sich das Innere mit dem Aeusseren verbindet. Real ist das schon lange geschehen, behaupte ich, doch mental hinkt oft hinten nach. Bei jenen, die sich über Uri lustig machen, genauso wie bei jenen, die das empfinden. Gefragt ist nicht der Kanton Uri von innen, ebenso wenig wie der von aussen. Gefragt ist der Kanton Uri von heute.

Ich werde Helen Bussmann das Interview gewähren, ihre These aber bestreiten. Denn längst greifen Geschichte und Zukunft auch in der Urner Gegenwart ineinander. Eine Polarisierung, hier lokale Tradition, da internationale Moderne, scheint mir weder angebracht noch adäquat.

Fuer meine geneigte Leserschaft besteht, solange ich noch in Schweden in den Ferien weile (bis Ende Juli), die Moeglichkeit, mich anzuregen, auch meiner These zu widersprechen. Denn dann werde ich bald schon Auskunft geben muessen, zu Uri von innenundaussen.

Claude Longchamp