Das Rätselraten, was das Zürcher Volk am Wochenende sagen wollte, weitergeführt

Die Analyse im Tagi von heute, was das Zürcher Stimmvolk am Wochenende sagen wollte, hat mich nicht wirklich erhellt, aber ermuntert meine eigene Interpretation zu skizzieren.

Munteres Rätselraten ist heute im Kanton Zürich angesagt. Ausgangspunkt ist das Gesamteindruck aus den Abstimmungen vom Wochenende. Populär gesehen hat die “Linke” gewonnen, derweil die “Rechte” verlor (notabene wie auf nationaler Ebene).

Doch der “Tagi/Newsnet” titeln: “Die Linke jubelt zu früh”. Basiert für diese Bilanz sind Statements (bürgerlicher) Polit-Exponenten (der Verlierer also) und einiger Potit-Experten. Eine detailreiche Grafik gibt zwar eine Uebersicht über die Position der Gemeinden in der Zürcher Politlandschaft, erhellt aber die Trends nicht wirklich.

Dem möchte ich hiermit etwas nachhelfen!

Inspiriert hierzu hat mich der Wertewandel-Bericht der Schweizerischen Gesellschaft für Zukunftsforschung, den ich gestern nachgelesen habe. Zwar verspricht dieser im Titel, etwas über die Schweiz 2030 zu wissen, was immer riskiert ist. Doch enthält er, bei gründlicher Lektüre, auch eine saubere Analyse, was den Wandel der Gegenwart ausmacht.

Vereinfachende Systematisierung der Szenarien für die Schweiz (nach SGZF)

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Generell gehen die Autoren von vier Szenarien aus: der Ego-Ansammlunhg, der Balance-Gesellschaft, der Clash-Zukunft und dem Entwicklungspfad des BioControllings.

Um es gängiger zu sagen: Im ersten Szenario geht es um die weitere Selbstentfaltung der Individuen, von vielen SozialwissenschafterInnen (aagelsächsischer Provenienz) das zentrale. Das zweite handelt von einer persönlichen Suche nach einem neuen Gleichgewicht zwischen Selbstentfaltung, Lebensqualität, sozialer und ökologischer Weiterentwicklung. Im dritten dominiert die harte Polarisierung, des kommt zum grossen Knall. Schliesslich das vierte Szenario: der Staat regelt unsere Lebensgrundlage neu, weil wie dazu nicht mehr in der Lage sind.

Dahinter stecken verschiedene Perspektiven der Wirtschafts-, Gesellschafts- und Staatsentwicklung: Ego und Balance setzen Wohlstandsvermehrung voraus, aber auch Gesellschaftsdifferenzierung, was bei Clash und BioControll gerade nicht der Fall ist. BioControll und Balance gemeinsam ist, dass sie auf einen aktivere Staats setzen, während das bei Ego und Clash nicht der Fall; sei es gewollt, oder aus Versagen.

Die zentrale These der Berichts ist, dass der Megatrend zur Ego-Society 2008 gestoppt wurde. Finanzmarkt-, Wirtschafts- und Staatskrisien haben ihn ad absurdum geführt. Indes, welcher der drei anderen Trends sich durchsetzt, ist noch nicht entschieden. Alle alternativen Szenarien sind, wenn auch in unterschiedlichem Masse, möglich.

Eine übergeordnete Interpretation der Abstimmungsergebnisse vom Wochenende in Kanton Zürich auf dieser Folie würde wohl wie folgt aussehen: Der Trend zur Ego-Gesellschaft ist tatsächlich ausgelaufen. Denn Vorlagen wie die Ladenöffnungszeiten, aber auch die Freie Schulwahl hätten ihn verstärkt; sie sind haushoch gescheitert. In die gleiche Richtung interpretieren kann man die, wenn auch knappe, so doch mehrheitliche Ablehnung weitere Steuerreduktionen.

Stillstand herrscht im Gesundheitswesen, sodass man hier nicht weiter nach Gründen suchen sollte. Indes, die Kulturland-Initiative einerseits, das Verkehrsabgabengesetz anderseits, wurden angenommen. Postuliert werden solche Trends vor allem Balance-Szenario, der Suche entwickelter Wohlstandgesellschaften nach neuen Gleichgewichten.

Man kann es auch so sagen: Die Kernthese usnerer Zukunftsforscher, die auch Gegenwartsforscher sind, bestätigte sich an diesem Wochenende im Kanton Zürich klar. Der weiteren Ausdehnung der Ego-Gesellschaft haben die Stimmenden Grenzen gesetzt. Von einem Clash wie in den südeuropäischen Staaten ist in Zürich, ja ist in der Schweiz wenig zu sehen. Neue Signale in dieser Hinsicht hat es am Wochenende nicht gegeben. Das gilt wohl auch für das BioControlling wie es etwa in den PublicHealth-Debatten zum Ausdruck kommt, und exemplarisch an der Raucher-Debatte politisiert wurde; darüber weiss man dann im September mehr, wenn gesamtschweizerisch über die Initiative gegen das Passivrauchen entschieden wird.
Heute schon spricht viel dafür, dass der neue Trend, wenigstens im urbanen Zürich dem “Balance”-Szenario entspricht, das bei bei hoher Wirtschaftsentwicklung, aber gleichzeitigen Versagen der Selbstregulierung durch die Individualgesellschaft zu erwarten ist.

Vielleicht führte das Rätselraten im “Tagi” auch nicht weiter, weil die politischen Kategorien, die verwendet wurden, überholt sind. Gerade die letzten kantonalen und eidgenössischen Wahlen haben im bevölkerungsreichsten Kanton der Schweiz gezeigt, dass es “die Linke” und “die Rechte” nicht gibt, auch nicht einfach eine Polarisierung, dafür eine mehrdimensionale Entwicklung der politischen Landschaft mit einem Trend zur Versöhnung von veralteten Gegensätzen zwischen Oekologismus und Individualismus. Egal, welche Parteien in Sachfragen dafür oder dagegen und damit Sieger oder Verlierer waren am vergangenen Abstimmungssonntag.

Das sehe ich letztlich auch als Hauptbotschaft in den Abstimmungsergebnissen vom Wochenende, mindestens im reichen, aber Balance-suchenden Kanton Zürich.

Claude Longchamp