Wenn die BürgerInnen entscheiden könnten, worüber sie abstimmen wollten

Ich habe mir die Liste angesehen, welche Volksabstimmungen in der Schweiz den BürgerInnen wichtig und unwichtig sind. Ein Kommentar zu sinnvollen und weniger sinnvollen Volksabstimmungen.

Worüber man in der Schweiz abstimmt, ist formal geregelt. Bei Verfassungsänderungen kommt es automatisch zu einer Volksentscheidung, bei neuen Gesetzen oder Gesetzesrevisionen, wenn 50000 BürgerInnen es verlangen. Das gilt auch für Staatsverträge. Ueber Volksinitiativen wiederum wird entschieden, wenn 100000 gültige Unterschriften beigebrachten wurden.
In den VOX-Analysen eidgenössischer Volksabstimmungen – Repräsentativ-Befragungen danach – werden seit Jahren Fragen zu wahrgenommenen Bedeutung von Volksentscheidungen gestellt. Einmal interessiert, wie hoch diese für die Schweiz als Ganzes, dann für einen persönlich gesehen wird. Das kann man auch als Gradmesser verwenden, um wichtige von unwichtigen Abstimmungen aus Sicht der BürgerInnen zu treffen.

Zieht man Bilanz zu allen untersuchten Abstimmungen seit der Jahrtausendwende, kommt man zu folgenden Schlüssen:

. Zuerst, die zugeschriebene Bedeutung von Abstimmungen für das Land ist stets höher als die für sich selbst. Die Differenzen schwanken zwar etwas, aber immer gleich gerichtet.
. Danach, Behördenvorlagen von nationaler Belang stammen aus den Bereichen UNO/EU-Verträge, Sozial- und Gesellschaftsolitik.
. Schliesslich, staatspolitische Fragen sind für die Bürgerschaft von geringerer Bedeutung.

Bedeutung von Behördenvorlagen (aus BürgerInnen-Sicht) seit 2000

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Machen wir ein paar Beispiele: Da “Ja” zu den Bilateralen Verträgen mit der EU war aus Sicht der Stimmberechtigten die (bisherige) Jahrhundert-Abstimmung. 84 Prozent massen ihr grosse nationale Bedeutung zu. Für 58 Prozent war sie auch persönlich von Belang. Dazu passt, dass auch die drei Volksabstimmungen zu den Bilateralen II (Personenfreizügigkeit, Schengen/Dublin) im Gefolge aufgelistet werden können. Man kann es auch so sagen: Die Kernfragen der Beziehung zwischen der EU und der Schweiz sind für die generell Bürgerschaft wichtig. Und sie sagt in der Regel Ja.
5 der 10 Top-Entscheidungen stammen aus den Bereichen Sozial- und Gesellschaftspolitik. Dazu zählen die beabsichtigte Senkung des Umwandlungssatzes bei der beruflichen Vorsorge, die klar scheiterte, die gelungene Einführung der Mutterschaftsversicherung und die Zusatzfinanzierung der Invalidenversicherung, aber auch die Revisionen des Asyl- und des Ausländergesetzes. Auch das kann man mit anderen Worten ausdrücken: Weichenstellung in umstrittenen Themen sind der Bürgerschaft ebenfalls wichtig. Dabei erreicht die persönliche Betroffenheit mitunter Höchstwerte.
Würde die Bürgerschaft auf Volksentscheidungen verzichten wollen, dann ginge es in erster Linie um institutionelle Fragen. Der Verzicht auf die Regelung von Bistumsgrenzen durch die Bundesverfassung interessiert so wenige wie nie davor und nie danach. Gering war das Interesse auch beim Verzicht auf die allgemeinen Volksinitiative, resp. bei der Neuregelung der Volksrechte. Alle Themen fand im Nachgang zur letzten Totalrevision der Bundesverfassung statt, weil man beschlossen hatte, das Gesamtprojekt durch Detailentscheidungen nicht zu gefährden. Nachträglich kann man sagen: Es waren, juristisch begründet, politisch übertriebene Aengste, denn alles ging im Sinne der Behörden aus – und das unter weitgehender Absenz von öffentlichen Debatten!
Bedeutung von Volksinitiativen (aus BürgerInnen-Sicht) seit 2000

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Nicht viel anders sind die Schlüsse, die man aus der gleichen Uebersicht zu Volksinitiativen ziehen kann. Denn auch hier gilt Umstrittene Gesellschaftsfragen aus den Bereichen Asylpolitik, Umgang mit religiösen Minderheiten, Ausschaffung krimineller AusländerInnen und Einbürgerungsfragen rangieren ganz oben. Das gilt auch für Beitritte zur UNO oder zur EU. Und es finden sich Weichenstellungen mit Breitenwirkungen in der Sozialpolitik, namentlich beim Rentenalter, wieder. Neu ist hier, dass vereinzelt auch Beispiele aus den Internationalen Beziehungen, vor allen die Kriegsmaterial-Exporte, und dem Umweltschutz, namentlich der Zweitwohnungsbau hinzu kommt. Im übrigen: Nur 3 der 10 top-gesetzten Volksinitiativen wurden angenommen, 7 abgelehnt, was nahe beim aktuellen Schnitt ist!
Auch der Gegencheck bestätigt das erkannte Profil: Nichts fanden die StimmbürgerInnen so bedeutungslose wie die verlangte Einführung eines neuen Referendumsrechts, dem sogenannt konstruktiven Referendum, das dann auch klar verworfen wurde.

Mit Blick auf das kommenden Abstimmungswochenende kann man vorerst nur spekulieren: Keine der drei Vorlagen dürfte es auf die Liste der Spitzenabstimmungen schaffen. Am ehesten noch als wichtig angesehen werden dürfte die Staatsvertragssache – weil sie die internationale Zusammenarbeit berührt, was im gegenwärtigen Umfeld nicht ohne ist. Verlangt wird der Uebergang von fakultativen zum obligatorischen Volksabstimmungen. Entsprechende Ausbauforderungen von Volksrechten waren allerdings kaum je wichtig, deutlich weniger als Grundsatzentscheidungen in der Sache selbst.
Oder um auf die Ausgangsfragen zurückzukommen: Konkrete Entscheidungen in Fragen der Europapolitik, umstrittene Gesellschaftsthemen und Veränderungen im Sozialwesen sind der stimmberechtigten Bevölkerung für sich und für das Land wichtig. Institutionelle Reformen, namentlich auch Demokratieausbau, bilden – in der Schweiz jedenfalls – das Gegenstück. Das sollten sich PolitikwissenschafterInnen, aber auch StaatsrechlerInnen merken. Denn nicht selten rangieren sie die allgemeinen Themenbereiche über den Sachentscheidung im Einzelfall!

Claude Longchamp