Er ist der optimistischste Politikwissenschafter, den ich kenne. Seine Karriere begann mit einer Habilitation über das gütliche Einvernehmen in der Schweizer Politik. Dass es damit nicht mehr weit her ist, bestreitet der emeritierte Berner Professor nicht. Doch sucht Jürg Steiner via deliberativer Politik nach einen Ausweg Richtung mehr Verständigung.
Wenn es Sommer wird und ich nach dem klingelnden Telefon greife, ahne ich, was kommt: “Claude, das esch dr Jürg”, heisst es in akzentreiem Berndeutsch. Was auch immer für eine Geschichte danach folgt, sie endet mit einer Einladung zum Mittagessen. Letzte Woche war es wieder soweit. Wir trafen uns im Della Casa, einem Berner Traditionsrestaurant.
Jürg Steiner lebt in Thun, wenn er nicht auf Achse ist. Einmal, als er mich am Bahnhof seiner Heimatstadt abholte, fragte er: “Was ist schöner als Thun?” – “Nichts t(h)un”, antwortete er gleich selber – und lachte über den gelungenen Witz.
Dass Steiner in seinem Forscherleben nichts getan hätte, kann man wahrlich nicht behaupten: Seine Habilitation in Mannheim widmete er der Konkordanzkultur der Schweiz nach der Einführung des Zauberformel für die Wahl des Bundesrates. Es war die hohe Zeit des gütlichen Einvernehmens, der Verständigung politisch unterschiedlicher Kreise untereinander. Seit es keine Einigkeit mehr gibt, wie der Bundesrat richtigerweise zusammengesetzt sein soll, ja, seit die Polarisierung die politisch-mediale Szenarie beherrscht, ist es damit nicht mehr weit her. Es herrscht, auch in der Schweiz, meist der Machtkampf, bis klar ist, wer in der Mehr- und wer in der Minderheit ist!
Das ist auch Jürg Steiner, der zwischenzeitlich Professor in Chapel Hill und Florenz war, nicht entgangen. Dennoch hat er nicht aufgegeben: In den letzten Jahren hat er sich ganz dem Projekt der deliberativen Demokratie gewidmet. Gemeint ist damit, dass Demokratie vom Diskurs über politischen Themen lebt, den möglichst viele BürgerInnen ganz im Sinne der partizipatorischen Demokratie miteinander führen. Und genau darin sieht Steiner neue Chancen, den Blockierungen durch das Schwarz-Weiss in der Mediendemokratie etwas gegenüberstellen zu können.
Bei all seinen Treffen in der Schweiz weibelte Steiner für sein neues Buch zur deliberativen Demokratie, das Ende Juni im Cambridge-Verlag erscheint. Vor dem Essen mit mir, war er bei der NZZ-Gruppe – und das nicht ohne Erfolg: Die NZZ am Sonntag widmete zu Pfingsten mit einem grossen Artikel Steiners Thema.
“Weisst Du”, sagte mir Jürg, “auf der ganzen Welt interessiert man sich für Deliberation. Die EU fördert sie mit viel Geld, und selbst die Kommunistischen Partei Chinas experimentiert damit. Nur in der Schweiz bleibt sie ein Unding”. Hauptgrund hierfür sieht der weltgewandte Berner Politologe in der Konzentration auf die hiesige direkte Demokratie, gemeinhin als Spezialfall verstande, der auf dem Globus Seinesgleichen sucht. Dabei übersehe man, dass gerade die Verlagerung der direkten Demokratie von der Versammlungs- zur Abstimmungsdemokratie Vor- und Nachteile habe, ist Steiners Credo: So sei es möglich, dass 5 Millionen Stimmberechtigte gemeinsam kommunizieren und entscheiden können; doch könne man nicht verhindern, dass mit der Medialisierung der Politik eine neue Logik Einzug halte.
Wenn zufällig ausgewählte BürgerInnen wieder in kleinen Gruppen in einem offenen Prozess miteinander diskutieren und einen gemeinsamen Entscheid fällen sollten, verschwinde der Kampf, kehre das Gespräch zurück, würden aus den WutbürgerInnen wieder Citoyen(ne)s.
Es ist eine bemerkenswerte These, die Jürg Steiner mit sich herumträgt. Er weiss sie mir Verve zu vertreten, und er ist nicht um Argumente verlegen, was auch in der Schweiz besser werden müsste. Der unermüdliche Debattierer mit gut 70 Lenzen empfiehlt Deliberation als Gegengewicht nicht nur zu Entscheidungen, die durch Abstimmungskämpfe bestimmt würden, nein, er sieht sie auch als Erweiterung der behördlichen Willensbildung, die zunehmend durch Lobbyismus bestimmt werde.
Forderungen nach mehr Partizipation waren immer das Gegenstück zu Technokratie, bleibt mir in Erinnerung, als wir uns verabschieden. Bis in einem Jahr … Und wer solange nicht warten mag, lese den Artikel der “Aus Wutbürgern werden Citoyens”, den Wissenschef und Physiker Andreas Hirstein in der NZZaSo publiziert hat, derweil fast alle hiesigen PolitologInnen rund um den prominenten Zeitgenossen aus Thun nichtstun, um die Welt zu verbessern.
Claude Longchamp
“… derweil fast alle hiesigen PolitologInnen rund um den prominenten Zeitgenossen aus Thun nichtstun, um die Welt zu verbessern.”
Ich hoffe, Sie sehen sich als Ausnahme, Herr Longchamp.
Was die deliberative Demokratie betrifft: Ich finde die Idee dahinter sehr interessant. Die praktische Anwendbarkeit des Konzepts (in einem grösseren Rahmen als ein paar Experimenten) ist für mich allerdings immer noch schwer vorstellbar. Aber vielleicht vermag mich ja das Buch zu überzeugen…
Machen wir ein Beispiel um zu sehen, was der Vorschlag meint:
Bei Managed Care stimmen wird am 17. Mai 2012 am Ende eines 8jährigen Prozesses ab, während dem die GesundheitspolitikerInnen und InteressenvertreterInnen das Sagen hatten. Das Risiko ist hoch. Besser wäre es wohl gewesen, in einer Frühphase mit deliberativen Gruppen zu erarbeiten, was in Sachen Aertzenetzwerke durchgeht, was nicht. Das Risiko eines finalen Scheitern würde so minimiert.
Die Idee kann auch auf beliebige Planungsprojekte angewendet werden.
[…] Wie aus WutbürgerInnen Citoyen(ne)s werden zoon politicon vom 28.5.2012 […]
Interessant ist ja, dass Habermas, auf den im NZZaSo-Artikel verwiesen wird, eine Unterscheidung zwischen starker und schwacher Öffentlichkeit macht. Erstere entspricht der institutionalisierten Meinungs- und Willensbildung und Letztere dem herrschaftsfreien Diskurs. Bei der Managed Care-Vorlage hat der institutionalisierte Meinungs- und Willensbildungsprozess acht Jahre gedauert. Deliberative Gruppen in einer Frühphase hätten diesen Prozess vielleicht abkürzen oder ihm eine andere Richtung geben können. Doch wie legitimiert sich die schwache gegen die starke Öffentlichkeit? Anerkennen die Akteure der starken Öffentlichkeit die Kraft der besten Argumente aus der schwachen Öffentlichkeit? Wie ich dargelegt habe, braucht es mehr dazu: http://edemokratie.ch/moralische-verpflichtung-politik/
Die kleinen Gruppen gibt es noch – in den kleinen Berner Landgemeinden. Sie werden soeben von der Hoheit pauschal für “nicht überlebensfähig” erklärt – unbesehen ihrer finanziellen Situation.
Das Problem der deliberativen Demokratie hierzulande ist, dass es den Promotern (von Jürg einmal abgesehen) meist nicht um die Deliberation an sich geht, sondern um die Durchsetzung von Postulaten, die sie in unserem heutigen politischen Prozess nicht durchbringen.
Das Problem der kleinen Gruppe à la Landsgemeinde ist, dass sie alles andere als repräsentativ zusammengesetzt sind, namentlich in gemeinden zwischen 3-7000 Eeinwohnern, häufig ohne Gemeindeparlament, aber mit Gemeindeversammlung, an der dann vielleicht 100 teilnehmen.
Ein zweiter Unterschied zur Deliberation ist, dass Gemeindeversammlungen alles andere als herrschaftsfrei sind, man kann sogar vom Gegenteil sprechen. An einem Abend kann es zu einem Dutzend Entscheidungen kommt, miest organisieren sich Dorfclans oder Parteien, und sie kontrollieren die Stimmabgabe nach kurzer Diskussion.
Deliberation will genau das verhindern. Sie will, dass man nach eine gemeinsamem Lösung sucht, und wenn man sie findet, sie gemeinsam weiterverfolgt.
Deliberation findet wohl am ehesten in (geschlossenen) Kommissionen statt, die sachorientiert verhandeln.
ad christian
danke für den hinweis, werde darauf eingehen, wenn die zeit reicht …
Zuerst einmal danke an Claude, dass er das Thema aufgegriffen hat. Dann zum Thema: Deliberation hat auch ihre Grenzen. Es kann nicht einfach heissen, umso mehr Deliberation, desto besser. In einer guten Demokratie braucht es natuerlich auch kompetitive Wahlen und Volkabstimmungen, und, ja, häufig auch hartes Aushandeln von handfesten Interessen, sicher auch Strassenproteste und Streiks. Das partizipative Element darf sich aber nicht darauf beschraenken, dass Bürger und Bütgerinnen bei Wahlen Namen von Kandidaten und Parteien anstreichen und bei Volksabstimmungen ja oder nein sagen. Es ist besonders wichtig, dass deliberative Gruppen in den vorüparlamentarischen Prozess fest eingebunden werden. Cal hat das im obigen Beitrag für managed care einsichtig dargestellt.Der Titel meines neuen Buches bei Cambridgfe University Press lautet übrigsns Foundations of Deliberative Democracy. Empirical Research and Normative Implications.
Lieber Herr Longchamp,
als Autor des NZZaS-Artikels möchte ich eine kleine Korrektur zu Ihrem Eintrag anbringen. Herr Steiner hat bei uns nicht für sein Buch geweibelt. Ich habe ihn kontaktiert, weil ich das Thema interessant fand.
Andreas Hirstein
@cal: Ich sehe, wie gesagt, den Nutzen des Konzepts. Ich habe aber Vorbehalte bei der praktischen Umsetzung. Beispiel Managed Care: Natürlich wäre es besser, die Vorlage würde im Vorfeld im Rahmen einer deliberativen Diskussion unter Bürgern besprochen. Doch an irgendeinem Punkt muss es eine Anknüpfung an die institutionelle Politik geben. Und dort liegt das Problem: Wenn die Vorschläge der Gruppen nicht bindend sind, bezweifle ich, dass sie einen nennenswerten Einfluss haben. Es ist ja nicht so, dass die Politiker keine Ahnung hätten, was mehrheitsfähig ist und was nicht, aber das ist eben nicht das einzige Kriterium bei ihren Entscheidungen. In einem Artikel in der NZZ (24.4.) räumte Steiner selbst auch ein, dass der Einfluss solcher Gruppendiskussionen letztlich beschränkt ist. Daher scheint es mir sinnvoller, die Kraft des guten Arguments im Rahmen der bestehenden Institutionen zu fördern.
at LL
Mit dem letzten Satz einverstanden. Doch sind die “bestehenden” Institutionen” nicht einfach fix.
Heute erleben wir einen Hausse von Einflüsse organisierter Akteure – via Lobbying.
Dem sollte man etwas entgegensetzen – via deliberative Polls. Ueber diese sollte PolitikerInnen lernen, zusätzliche zu Meinungen aus der Bevölkerung – via ordentlichen Polls – konsensfähige Positionen zu erkennen.
Oder noch einfacher ausgedrückt: Je ein runder Tische der BürgerInnen sollte je ein runder Tische der Lobbyisten ergänzen.
Ich kenne die Nachteile von Gemeindeversammlungen nur zu gut. Genau darum habe ich nicht davon “geschwärmt”. Trotzdem: kleine politische Räume ermöglichen die Diskussion in kleinen Gruppen sehr viel besser. Im Moment sind das Schulkommissionen, Baukommissionen, etc. Meist nicht öffentlich (warum eigentlich nicht?) und natürlich nicht zufällig bestückt. Aber: Ist nicht eine Schulkommission in einer 300-Personen-Gemeinde ein Ansatzpunkt für eine sachliche Suche nach dem “besten Argument”, und zwar mehr als z.B. als es in der Stadt Bern der Fall wäre?
Im vorparlamentarischen Prozess auf Bundesebene dominieren meiner ganz praktischen Erfahrung nach die von der Verwaltung dominierten Expertengruppen, welche schon einen eingeschränkten Blickwinkel auf ein Thema und eine Frage haben. Darin sind meist jene in der Mehrheit, die von einer zusätzlichen Regulierung profitieren zu können glauben. Damit Interessen in dieser (entscheidenden) Phase berücksichtigt werden, müssen sich sich durch ein gewisses Wohlverhalten auszeichnen. Wie hier ganz praktisch deliberativer gearbeitet werden könnte, das wäre spannend. Wer mit einem derartigen vorparlamentarischen Prozess nicht einverstanden ist, dem bleiben heute nur die direktdemokratischen Instrumente Referendum(-sdrohung) und Verfassungsinititive. Immerhin…
Ich kann der Vermutung von cal und Feusi zustimmen, dass derzeit vorallem in (geschlossenen) Kommissionen und Fachgremien deliberative Räume bestehen bzw. entstehen können. In der überwiegenden Mehrheit von Exekutivkommissionen wird Sachpolitik betrieben. Nur deshalb ist es überhaupt möglich, dass das Verwaltungssystem in den Kantonen und vorallem in den Gemeinden funktioniert. Meine Erfahrung geht dahin, dass für eine echte Deliberation in diesen Gremien entscheidend ist, dass diese gut moderiert werden, d.h. dass das Präsidium Deliberation zulässt oder gar von den Mitgliedern fordert.
Deliberation bedarf einer minimalen Moderation einerseits und einer gewissen Selbstdisziplin der Teilnehmenden (man könnte auch sagen den Wille der Teilnehmenden zum deliberativen Austausch) andererseits. Deshalb habe ich gewisse Zweifel, ob wirklich alle neuen Medien der Deliberation förderlich sind. Wenn einfach darauflos “getwittert” wird, fördert das zwar ein breites Meinungsspektrum zu Tage, stellt aber keine wohlverstandene Deliberation dar.
at Feusi
Genau, das ist der Punkt!