Wahljahr 2011: Bisher unbekanntes Hoch für Volksinitiativen

VertreterInnen des Bundeskanzlei, der Wissenschaft, der Forschung, der Kampagnenführung und des Lobbyings gingen diese Woche an der NPO-Tagung zu Volksinitiativen mit zahlreichen Initiativkomitees in sich: um zu lernen, aber auch zu diskutieren, wo sinnvollerweise Grenzen der Volksrechte sein könnten.

Zum Beispiel Barbara Perriard. Sie ist die amtliche Hüterin der Volksrechte in der Schweiz. Die Basler Juristin leitet seit 2010 die Sektion Politische Rechte der Bundeskanzlei. An der NPO-Tagung zu Stolpersteinen und Erfolgsfaktoren von Volksinitiativen legte sie neue Statistik offen, welche den Gebrauch des Instruments im Wahlumfeld beleuchtet:

. Ergebnis 1: Nie zuvor wurden mit 23 Stück so viele Volksinitiative gestartet wie 2011. Bisheriger Rekordwert war 15.
. Ergebnis 2: Seit den Wahlen 1983 steigt die Zahl lancierter Volksinitiative im Wahljahr- und/oder Vorwahljahr markant an.
. Ergebnis 3: Mindestens seit 1995 gilt, dass die Zahl neulancierter Volksbegehren im Nachwahljahr deutlich sinkt.

Das alles kann man nur so interpretieren: Volksinitiativen sind (mitunter) zu Vehikel von Parteien (und weiteren Gruppierungen) geworden, die sich im Wahljahr profilieren wollen.

Mustergültig vorgeführt wurde dieses Konzept 2007 von der SVP. Symbolträchtig lancierte sie am Bundesfeiertag, dem 1. August des Wahljahres, die Volksinitiative zur Ausschaffung krimineller AusländerInnen. Damit setzte sie im Wahlkampf eines der Hauptthemen, das sie werberisch für sich zu nutzen wusste. Wie kaum eine andere Affiche wurde das Schäfchen-Plakat zur Icon gegen Migration angesichts geöffneter Grenzen, mindestens im nationalkonservativen und rechtsextremen Umfeld. Damit nicht genug: Auch das Parlament stieg unter Führung der FDP auf die Problematik ein, und formulierte ein Gegenprojekt; 2010 kam es zur Volksabstimmung über beides; just ein Jahr vor der nächsten Nationalratswahl präferierten die Stimmenden die härtere Version in Form der Volksinitiative. Lanciert war damit der neuerliche Wahlkampf, der wohl ebenso Erfolg gehabt hätte wie jener vier Jahre zuvor, wäre da nicht der politischen Klimawandel gewesen, ausgelöst durch den Atom-Unfall in Fukushima und den hohen Frankenkurs im unmittelbaren Vorfeld des Parlamentswahlen.

Klar, bei weitem nicht alle im Wahlumfeld lancierten Volksinitiativen sind so wirksam, denn die wenigsten treffen den Zeitgeist so genau wie das bei der SVP-Ausschaffungsinitiative war. Dafür spricht auch, dass die Kopie des gleichen Konzepts 2011 mit der Masseneinwanderungsinitiative trotz grossem werberischen Aufwand versagte.

Betrachtet man die übrigen Initiativen, erkennt man zahlreiche weitere Gründe; zu ihnen zählen:

. Die aufgegriffene Thematik keine keinen wirklichen Problemdruck, der das Projekt befördert.
. Der Lösungsansatz, allenfalls die Trägerschaft sind zu umstritten, um eine genügend breite Masse zu mobilisieren.
. Die Unterschriftensammlung scheitert an der Zahl und Frist für die einreichung gültiger Unterschriften.
. Das Volksbegehren ist ungültig, oder es wird zurückgezogen.

Die Beobachtung legt nahe, dass vor allem deren Zahl rasch ansteigt, nicht zu letzt wegen der vermehrten Marketing-Ausrichtung verschiedener Parteien und Komitees vor Wahlen. Die erhöhte mediale Aufmerksamkeit, aber auch die gesteigerten BürgerInnen-Sensibilitäten sprechen dafür, sich mit Volksrechten ins Szene zu setzen. Nur, das Instrument ist eigentlich dafür gedacht gewesen, verfassungswürdigen Anliegen, welche Regierung und Parlament nicht teilen, Gehör zu verschaffen. Mit der aktuellen Entwicklung bewegen wir uns in Richtung tagesaktueller Probleme, die mit einem Instrument bewirtschaftet werden sollen, das sich dafür kaum eignet, aber als Plattform der Selbstdarstellung gebraucht werden kann.

Mehr noch, selbst die Ankündigung eines entsprechenden Volksbegehrens schafft es bisweil bis in die Top-Spalten der Medien, die nur auf Aufmerksamkeit aus sind, die Frage der Relevant indessen gar nicht mehr stellen. Die vermeintliche Lancierung einer Volksinitiative zur Wiedereinführung der Todesstrafe war der Höhepunkt dieser (unrühmlichen) Entwicklungen.

Im Vorfeld der Tagung habe ich versucht, mit einer Gratiszeitung, die jeden Abend erscheint und viele LeserInnen hat, zu besprechen. Erfolglos – man schnitt die Tagung!

Claude Longchamp