Paul Rechtsteiners spektakulärer Wahlerfolg 2011 in der Analyse

Seit 1986 politisiert Paul Rechsteiner unter der Berner Bundeskuppel. Sechs Mal haben die St. GallerInnen den heutigen Präsidenten des Gewerkschaftsbundes in den Nationalrat geschickt; 2011 hievten sie das linke Urgestein in den Ständerat. Journalist Ralph Hug hat sich der Aufgabe angenommen, Gründe für die Ueberraschung zu finden und legt wenige Monate nach der Wahl das erste Sachbuch zu einer Ständeratswahl in der Schweiz vor.

Seinen gut lesbaren Bericht gliedert Ralph Hug in vier Teile: in die Analyse der Ausgangslage, in die Kampagne zur ersten Runde, jene zur zweiten und in einen Ausblick, wie linke Politik mehrheitsfähig sein kann. Dabei macht er keinen Hehl, wo er steht. Das wäre auch falsch gewesen, denn der freie Journalist war Teil des Wahlkampfes auf Seiten des Erfolgreichen gewesen.

Am spannendsten sind die Ausführungen beim Uebergang von der ersten zur zweiten Runde. Denn der Entscheid, nochmals anzutreten stand, so der Autor, alles andere als fest. Beflügelt wurde das Ja hierzu durch den Rücktritt des Bisherigen Eugen David, der angesichts der Wahlschlapp noch am Wahlabend das Handtuch warf. Das eröffente die Perspektive, auf eine Polarisierung zwischen dem Präsidenten des Gewerkschaftsbund einerseits, dem SVP-Parteipräsidenten Toni Brunner anderseits zu setzen, bei der Mobilisierung, Bündnisfähigkeit und Entscheidung nach dem Ausschlussprinzip den Ausschlag geben sollten.

Heute weiss man es: Genau das geschah – auch wenn es für Viele unerwartet endete!

Am Anfang eines solchen Erfolges steht, so die Hoffnung, etwas verändern zu können. Anzukämpfen hat man dabei mit der Erfahrung, dass dies meistens scheitert. Entsprechend konzipiert war der erste Teil der Kampagne: “Gute Löhne, gute Kämpfe” ist genau das, was man von einem gewerkschaftlichen Kandidaten normalerweise zu hören bekommt. Verbreitet wurde es im bekannten Strassenwahlkampf mit den eingespielten Werbemitteln. Zu Multiplikatoren machten man vor allem die Kultur- und Kunstszene.

Soweit bekannt, wie auch das Ergebnis: Ansprechend war die Stimmenzahl Rechsteiners, beträchtlich jedoch auch der Rückstand auf Brunner. Ein Erfolg musste, war man sich im Kernteam um den Kandidaten einig, mit neuen Akzentsetzungen gesucht werden: Der Slogan mutierte zu “Einer für alle!”. Das urbane Umfeld wurde Richtung ruraler Umgebung erweitert. Geschickt steigerte man die Aufmerksamkeit mit nationalen Meinungsmachern, um zu kommunizieren, dass da einer ist, auf den man in den Schaltzentralen von Politik und Medien achtet. Entscheidend war aber die Nomination aus der CVP. Als Aufbaubewerbung mochte der Antritt von Michael Hüppi, Präsident des städtischen Fussballclubs, geeignet erscheinen; nur die kurze Dauer bis zum zweiten Wahlgang war zu kurz, um wirklich Aussicht zu versprechen. Das merkte man bald auch im CVP-Umfeld: die CSP rebellierte, was bei den Altkatholiken wiederum für Rumoren sorgte. Faktisch war die katholische Mitte angesichts innerer Streitigkeit lahm gelegt. Nun begann das, was wohl zum Erfolg führte: die erweiterte Mobilisierung ohne politische Anbiederung. Neue Kreise wie die GLP, aber auch JungpolitikerInnen verschiedenster Couleur, schliesslich auch die Frauenorganisation wurden angesprochen, engagierten sich im Wahlkampf und empfahlen den erfahrenen Politiker, der sich bei der Abwehr von Sozialabbau in verschiedensten Lagern einen Namen gemacht hatte.

Das Ergebnis gab den Hoffenden Recht. Politologe Werner Seitz analysiert die Ursachen in einem kurzen Nachwort wie folgt: Voraussetzung war erstens, dass das bürgerliche Lager seine Hegemonie bei Ständeratswahlen durch die Spaltung zwischen Zentrum und SVP verloren hatte. Hinzu kam zweitens, dass die SVP, gestählt in Proporzwahlen, keine Person vorschlug, die im denkbaren Elektorat nicht polarisierte. Drittens, ohne den Nominationsfehler der CVP hätte trotzdem Vieles anders aussehen können. Denn erst mit diesem Faux-pas stand, viertens, mit Paul Rechsteiner “der geeigneter Kandidatur zur Verfügung, dem es gelang, verschiedene Kreise ausserhalb des traditionellen SP-Segmentes zu mobilisieren.”

“Eine andere Wahl ist möglich”, heisst das Buch. Dem stimmt man unter politischen Engagierten wohl immer zu. Skeptischer reagiert man jedoch, wenn man die Zugabe im Klappentext liest, wonach man von St. Gallen lernen könne. Meine Kritik: So einfühlsam das Buch aus Insidersicht gemacht ist, so wenig trägt es zur Verallgemeinerung von Erkenntnissen bei. Denn zu oft bleibt man beim Lesen bei Wendungen stehen, das Ergebnis hing von der Umständen ab, sei situationsbedingt gewesen, und habe viel mit der Person Rechsteiner zu tun. Entsprechend hat man kein Handbuch zum (denkbaren) Benchmark in den Händen, wenn man den Band aus dem Rotpunktverlage kauft. Vielmehr müsste der Bericht die Wahlforschung animieren, nach generellen Zusammenhänge zu fragen, warum die Veränderungen bei Ständeratswahlen seit einiger Zeit ebenso spannend sind wie die bei Nationalratswahlen, indes, das Pendel ganz anders als bei Proporzwahlen bei Majorzwahlen zugunsten der Linken ausschlägt.

Die Antwort ist meines Erachtens noch offen.

Claude Longchamp