Wenn Piraten im Wind der Zeit segeln …

Die Analyse der Piratenpartei entwickelt sich, fast von Tag zu Tag. Den bisher grössten Bogen spannt Historiker Paul Nolte in der Berliner „taz“. Er deutet die aktuellen Entwicklungen als zeitgemässe Demokratie-Entwicklung, denn diese könne und dürfe nicht mehr auf den Parlamentarismus beschränkt bleiben.


Prof. Paul Nolte, Berlin, über die Piratenpartei als Teil des gegenwärtigen Demokratiewandels

Zuerst war sie ein rein lokales Phänomen, getragen von der Politikverdrossenheit im roten Berlin. Dann wurde sie zum Lebensgefühl einer ganzen Generation, die mit dem etablierten Parteiensystem nicht mehr anfangen kann. Jetzt deutet Paul Nolte, 49, Geschichtsprofessor in Berlin, die aktuellen Veränderungen in der “taz” als ein Symptom des gegenwärtigen Demokratie-Wandels.

Joseph Schumpeter, der Oekonom, interpretierte Demokratie als zeitgenössisches Verfahren zur Bestimmung der Herrschaft. Politökonomen in seinem Gefolge propagieren bis heute das Gleiche: Hauptsache ist, man kann die Regierung direkt oder indirekt wählen, um so periodisch das politische Programm bestimmten zu können.

Daran zweifeln verschiedene Interpreten der Demokratien schon länger. Sie sprechen, wie Benjamin Barber, von „starker Demokratie“, oder wie Jürgen Habermas von „deliberativer Demokratie“. Paul Nolte schliesst sich diesem Diskurs an. „Für eine Entpolitisierung kann ich aber weit und breit keine Anzeichen erkennen. Ich sehe viel eher neue Handlungs- und Artikulationsformen in der Demokratie.“

Historiker Nolte orten einen langfristigen Trend weg von Parteiendemokratie, mit Wahlen und Parlamenten. Die sei in der Nachkriegszeit notwendig gewesen, als Ueberwindung von Diktatur: heute jedoch sei sie angesichts neuer Partizipations- und Transparenz-Forderungen unzureichend geworden.

Dabei ist der Berliner alles andere als blauäugig: „Eine komplizierte Materie wie die Schuldenkrise wird man nicht mit Mitteln … des Straßenprotests lösen können. Dafür brauchen wir nationale Regierungen und europäische Institutionen, die demokratisch legitimiert sind. Auf die derzeitige Krise muss eine Vertiefung der europäischen Integration folgen.“ Dennoch empfiehlt er mehr direkte Demokratie.

Das klassisch-deutsche Argument gegen mehr Bürgerentscheidungen lässt Nolte nicht gelten. Denn direkte Demokratie führe nicht zu Bonapartismus und von da in Faschismus oder Nationalsozialismus. Gerade das Beispiel Deutschland zeige dies. Zwar hätten die sozialen Ungleichheiten in den letzten 20 Jahren zugenommen, einen Trend zum Rechtspopulismus gäbe es aber nicht. Die negativen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus würden das verunmöglichen. Vielmehr rückten Volksparteien nach links, auch Grüne und Piraten, und bildeten, ganz anders als in den polarisierten Vereinigten Staaten, eine Art ideele Gesamtpartei.

Damit die elektoral bestimmte Politik nicht abhebe, propagiert Nolte Volksentscheidungen, wie jüngst die zu Stuttgart 21. Mit ihr könne das Volk stärker miteinbezogen werden und auch über konkrete Sachfragen entscheiden. Direkte Demokratie sei unabhängig von Einzelentscheidungen wichtig, beispielsweise als Trend gegen die Aushandlung von Politik in Gerichtsverfahren.

Oder anders gesagt: Demokratie können nicht mehr auf den Parlamentarismus beschränkt werden. Sie werde vielfältiger. Die Piraten reagierten dabei am klarsten auf den technologischen Wandel der Gegenwart. „Das Internet bezeichnet den tiefsten Kommunikationswandel seit der Erfindung des Buchdrucks. Es wäre doch erstaunlich, wenn sich das nicht auch in politischen Bewegungen niederschlägt.“

Nicht alles, was ich da gelesen habe, ist neu. Einiges ist, gerade aus Schweizer Sicht, auch typisch deutsch. Doch finde ich das Bild, das Paul Nolte von der heutigen Demokratieentwicklung komponiert, ausgesprochen stimmig. Einmal mehr, erweist sich direkte Demokratie Janus-köpfig: Für die einen ist sie eine konservative Tradition, für die anderen die modernste Politikform. Auf jeden Fall ist sie eine Antwort auf demokratische Herrschaftsformen durch Parteien, die sich bei weitem nicht auf das Parlament beschränkt, sich vielmehr immer deutlicher auch auf Regierungen und Gerichte ausdehnt. Und dazu braucht es, wie Nolte treffend sagt, Gegenkräfte die nicht nur Geschichte haben, nein!, auch für die Zukunft taugen.

Claude Longchamp