Warum die Schweiz mehr Ferien gegenüber skeptisch ist. Ein Erklärungsversuch.

“Erklären Sie einem Menschen ausserhalb der Schweiz, warum die Einheimischen nicht mehr Ferien wollen?” So versuchte gestern ein Journalist mich aus meiner Zurückhaltung zu locken. Spontan fiel meine Antwort vielleicht etwas kurz aus, hier kann ich etwas ausholen.

Erfolgreich sind Volksinitiativen, die massive Defizite der behördlichen Politik aufgreifen und/oder breit geteilte Interessen vertreten. Dazu gehören in Zeiten der Inflationen Forderungen aus dem KonsumentInnen-Schutz. Es zählen auch neuralgische Stellen zwischen Einheimischen und AusländerInnen dazu, namentlich dann, wenn sie Minderheiten treffen, die man nicht gerne unter sich weiss. PolitologInnen sprechen denn auch von der Ventilfunktion von Volksabstimmungen. Sie sind nicht nur da, um ein Problem zu lösen, sondern auch politischen Missmut abzubauen.

Ob die Stimmenden nicht mehr Ferien wollen oder, wissen wir letztlich erst am 11. März 2012 nachmittags. Heute kann man analyiseren, zum Beispiel aufgrund der Ergebnisse der SRG-Abstimmungsbefragungen von gestern. Demnach sind 55 Prozent bestimt oder eher gegen 6 Wochen Ferien für alle, 39 Prozent bestimmt oder ehere dafür. Beteiligen würden sich rund 4 von 10 StimmbürgerInnen.

Psychologisierung, nicht Politisierung ist bei den InitiantInnen angesagt: “Timeout gegen Burnout” ist ihr Slogan. Damit greifen sie ein Thema auf, das man individuell vielerorts kennt: am Arbeitsplatz, in der Freizeit und des Nachts; überall klagt man über die negative Auswirkungen der Arbeitswelt. Vemehrt Ferien, vermehrt individuelle Zeit- und Ortsbudget und vermehrt Erfüllung in der Arbeit sind durch aus verbreitete Wünsche.

Volksabstimmungen, indes, sind nicht einfache Hitparaden der Alltagssorgen- und wünsche, sondern Entscheidungen über vorgeschlagene Lösungen. Und da gehen die Meinungen über das Richtige schon unter den ArbeitsnehmerInnen auseinander: Für die Einen brauchte es mehr Erholungszeit; denn sie sehen, dass die Dichte während des Arbeitens grösser wird – was mehr Distanzierungsmöglichkeiten bedingt. Andere wiederum sind der Auffassung, mehr Ferien erhöhten das Beklagte nur. Wenn alle Arbeitsnehmer 6 Wochen Ferien haben, leisten auch alle ArbeitsnehmerInnen 6 Wochen Stellvertretungen.

Dieses Dilemma belegt auch die gestern veröffentlichte Umfrage. Teilzeiarbeitende stehen mehr Ferien positiver gegenüber, denn sie suchen individuelle Lösungen für ihre Work/Life-Balance. Vollzeiterwerbstätige lehnen sie indessen verstärkt ab. Sie haben sich mit den vorgeschriebenen Arbeitsrhythmus arrangiert. Selbstredend sind Nicht-Erwerbstätige am meisten dagegen; die Hälfte von ihnen gehört zur Rentnerschaft, sagt sich wohl, das hatte ich auch nicht, und die andere Hälfte hätte möglicherweise lieber ein Job als mehr Ferien.

Bei Volksabstimmungen schwingen darüber hinaus politischen Ueberzeugungen mit. Wenn es um die Neuverteilung von Rechten am Arbeitsplatz oder in der Wirtschaft geht, werden die BürgerInnen entlang der Parteibindungen polarisiert. Das ist auch aktuell der Fall – und zwar recht exemplarisch: Bürgerliche Parteiwählerschaft sind (heute schon) zu zwei Dritteln gegen das Anliegen, linke mindestens gleich geschlossen für mehr Ferien. Mehr noch als mit den Gewerkschaften hat das mit dem Weltbild der bürgerlichen Schweiz zu tun: Zentral ist die Vorstellung, durch den Arbeitsethos, geboren im Protestantismus der frühen Neuzeit, hochgehalten in der Phase der Industrialisierung, zum eigenen Wohlstand beigetragen zu haben. Aller Kritik in der Gegenwart zum Trotz, gilt das, auch bei den säkularisierten KatholikInnen, als Begründung, bei solchen Themen nicht nur zweckrationale Entscheidungen zu treffen, sondern auch wertrationale zu fällen. Hochgehaltene Prinzipien sind da wichtiger als eigene Interessen.

Ich weiss, das sehen linke und rechte BürgerInnen diametral anders: Denn für Linke haben die Arbeitnehmer längst ihren Beitrag zur Produktivitätssteigerung erbracht, um jetzt Kasse machen zu können. Für rechte SchweizerInnen ist das ganz einfach nicht die Ebene, auf der sie sich entscheiden. Denn ihnen ist die Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz wichtiger, gerade in einer umstrittenen Umwelt.

Damit bin ich beim meinem letzten Argument: dem gegenwärtigen Klima. Nein, ich meine nicht die Kälte draussen! Vielmehr geht es mit um das Wirtschafts-Klima, ausgelöst durch die Weltwirtschaftskrise, von der die Schweiz bis jetzt einigermassen verschont blieb – wenn auch ohne Sicherheit für die Zukunft. Es geht mir auch um das Gesellschafts-Klima mit Abstiegsängsten angesichts offener Gesellschaften und daraus entstehender Probleme, und ich meine auch das politischen Klima: Denn seit den Wahlen 2011, die über die Umwelt- und Energieproblematik ein beträchtliches Zerwürfnis unter den bürgerlichen Parteien hervorgebracht hat, wird im Abstimmungskampf zur Ferien-Initiative Gegenteiliges sichtbar: SVP, FDP, CVP und BDP ziehen am gleichen Strick gegen mehr Ferien, und sie wissen sogar die GLP auf ihrer Seite. Die Linke, im letzten Wahlherbst mit ihren KandidatInnen in den Ständerat punktuell durchaus für Ueberraschungen gut, muss sich damit auseinandersetzen, dass nur für SP, GPS und kleine Linksparteien die Ferien-Initiative von Travail.Suisse prioritär ist, zusammen aber keine 30 Prozent der schweizerischen Wählerschaft repräsentieren.

Eine Prognose für den 11. März 2011 ist auch das nicht. Aber ein Erklärungsversuch, der nicht nur auf politökonomischen Interessenlagen basiert, sondern das allgemeine Klima, die politische Willensbildung in der genannten Sache, die bisherigen Kampagnen, die Erfahrungen aus Vergleichsabstimmungen und das Bewusstsein der SchweizerInnen miteinbezieht. Das ist nach meiner Erfahrung angemessener, auch wenn die Gewichtigung der hier vorgeschlagenen Elemente nicht unabhängig von einer bestimmten Situation existieren.

Claude Longchamp