Politphilosophinnen erobern die Bühne

“Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht!” Diesen Kinderreim gaben mir meine Eltern mit auf den Lebensweg. Unweigerlich erinnert wurde ich daran, als ich der Rücktrittsrede von Philipp Hildebrand zuhörte. Dass er nicht mehr sicher sein könne, nicht mehr nur als Lügner durchzugehen, bewog ihn, nach eigenen Angaben, zum Abgang an der Spitze der Schweizerischen Nationalbank.

Uebers Wochenende meldeten sich gleich zwei Politphilosophinnen zur laufenden Debatte. Katja Gentinetta in der “NZZ am Sonntag” und Regula Stämpfli im “Sonntag”. Weiss der Erwachsene Longchamp nun mehr, als das Kind vor 50 Jahren gelernt hatte?

Regula Stämpfli schreibt über die Politikerlüge. Das Thema ist beileibe nicht neu, aber in eine neue Aera gekommen, meint sie Die Lewinsky-Affäre von US-Präsident Bill Clinton habe die Wende gebracht, denn seither beherrschten Politiker die Lüge, ohne aus dem Amt ausscheiden zu müssen. Grund: Die öffentliche Wahrheitssuche focussiere auf das Wort statt auf die Zusammenhänge. Ganz generell, in der Mediendemokratie habe Oeffentlichkeit keine kritische Funktion mehr. Je mehr einer lüge, um so mehr ignoriere man das. Die grosse Lüge halten sich dank Macht, während die kleine an ihrer Ohnmacht scheitere.

Da, wo Stämpfli aufhört, beginnt Gentinetta (Artikel auf dem Web leider nicht allgemein greifbar). Basal sei die Rechtsordnung. Wer in der Oeffentlichkeit stehe, müsse sich darüber hinaus seiner moralischen Integrität bewusst sein. Uebertriebene Erwartungen an die Politik seien aber nicht angebracht. Zu den Errungenschaften des Rechtsstaates gehöre, Fehlverhalten zu benennen und zu bestrafen. Das sei nicht die Aufgabe des Mobs wie zu Zeiten vor der Französischen Revolution oder jetzt in Internetforen. Vor allem, wer selber nicht über jeden Verdacht erhaben sei, würde besser schweigen, setze sich anderfalls dem Verdacht aus, Revanche zu nehmen, was kein Rechtsstaat dulden könne.

Bei beiden Interventionen fällt zunächst nicht die Nähe zur Politik, sondern die räumlichen Distanz auf. Stämpfli lebt (seit langem) aus Brüssel, ohne die Schweiz ganz losgelassen zu haben. Gentinetta lebt ebenso lange in Lenzburg, erfuhr von den Ereignissen jedoch beim Besuch der Ausstellung über “Geld und Kunst” in Florenz. Beide bedienen sich nicht nur des Arguments, auch des geschichtlichen Beispiels. Bei Stämpfli sind es die aus der Zeitgeschichte rund um den Globus, während sich Gentinetta auf den Uebergang vom Spätmittelalter in die frühe Neuzeit im Venedig der Medici-Fürsten bezieht.

Dennoch, es überwiegen eher die Unterschiede. Hier die Liberale, die ihre Idee elegant mit dem Wort verficht, da die Feministin, die ihre Position in knallharte Sätze stanzt. Nirgends wird der Unterschied so deutlich wie bei der Bewertung des Staates! Für Gentinetta ist er typischerweise imperfekt, aber mit Potenzial zur Verbesserung, derweil er bei Stämpfli zum pervertierten System verkommen ist. Für mich als Politikwissenschafter wirkt beides etwas irritierend: Letztlich sind das streitbare Prämissen, die diskutiert gehören, nichgt aber als Rahmung für Deutungen oder Folgerungen unterstellt werden dürften.

Man würde sich ein Podium mit beiden Exponentinnen wünschen, denn gerade bei philosophischen Positionsbezügen überzeugt das Argument aus der Debatte, die nicht zeigt, wer recht hat, sondern mehr der komplexen Realität erfasst. Bis dahin bleibe ich bei meinem Kinderreim. Ausser dass ich gelernt habe, dass zwischen der individuellen Lüge und der (Un)Wahrheit in komplexen Gesellschaften ein erheblicher Unterschied besteht. Ob diese zur Wahrheitsfindung fähig ist und Remedur schaffen kann, bin ich mir aber nicht sicher geworden.

Claude Longchamp