Die Schweiz hat einen alt-neuen Bundesrat

Ich hatte gestern einen unvorhergesehenen Eingriff, der mir seither den Mund verbietet. Mit Reden ist heute nichts, deshalb schaue ich die Bundesratswahlen am Fernseher zu – und protokolliere und kommentiere sie als Blogger.

SWITZERLAND-POLITICS-GOVERNMENT
Der Bundesrat 2012-2015 bei seiner Vereidigung

Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey macht einen glücklich Eindruck, als sie vor der Vereinigten Bundesversammlung verabschiedet wurde. Erinnert wurde an ihren Satz beim Antritt, eine aktive und sichtbare Aussenpolitik betreiben zu wollen, denn in der direkten Demokratie wäre alles andere falsch; in der Tat, sämtliche Volksabstimmungen aus ihrem Departement gingen während ihrer Regierungszeit im Sinne der Behörden aus. Da heisst nicht, dass sie sich selber nur lobte, denn sie erwähnt auch die zu geringe Präsenz der Schweiz in der Welt dar. Die Rücktrittsrede für MCR, wie sie bei Insidern hiess, hielt nicht wie es die Tradition will Nationalratspräsident Hansjörg Walther, sondern Hans Altherr, sein Kollege auf dem obersten Stuhl im Ständerat. Denn Walther wird selber Kandidat sein, wenn es um die Nachfolge von Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf geht. Und damit sind wir beim Thema: Die Gesamterneuerungswahl des Bundesrates der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Als einziges Parlament der Welt wählt die Bundesversammlung die Mitglieder der Regierung. Sie macht es Sitz für Sitz – in Einzelwahlen. Das ist nicht ohne, denn der Bundesrat muss anschliessend als Kollegium funktionieren.

Die Erklärungen der FraktionspräsidentInnen
Vor der Wahl erklären sich die FraktionspräsidentInnen. Sie erklären die Entscheidungen von gestern und heute. Insgesamt bemühen sie sich um Zurückhaltung, denn sie wissen, dass heute viel auf dem Spiel steht.

SVP: Zuerst spricht Caspar Baader von der SVP. Er zeichnet ein düsteres Bild des Umfeldes der Schweiz, was ein konkordantes Verhalten bei der Bundesratswahl bedinge. Diese Wahl habe nach der Grösse der Partei zu erfolgen. Er empfiehlt Jean-François Rime und Hansjörg Walther als Kandidaten für den Sitz von Widmer-Schlumpf. Zudem wolle man Doris Leuthard und Ueli Maurer wählen, während er alles andere offen lässt.
SP: Ursula Wyss, die Sprecherin der SP, kritisiert anschliessend, dass der rechte Block, der bei der Parlamentswahl 16 Sitze verloren habe, gestärkt werden wolle. Die SP anerkenne den Anspruch der SVP auf 2 Sitze, aber nur, wenn sie gegen die FDP antrete. Wyss erklärt, die SP werde heute alle bisherigen Regierungsmitglieder wiederwählen. Es werde keine Spielchen mit den Stimmen der SP geben, nicht zuletzt, damit einer der SP-Kandidaten als Nachfolger für Genfer SP-Bundesräte werde.
FDP: Für Gabi Huber von der FDP geht es heute mehr als um Harmonie, sondern um die Wahl des Bundesrates. Sie plädiert für die Rückkehr zur Zauberformel, bestimmt nach dem Wählerwillen, denn nur die Konkordanz lasse Volksrechte zu. Ihre Fraktion werde deshalb 2 SVP wählen; sie empfiehlt auch die beiden FDP-Bundesräte zur Wiederwahl.
CVP/EVP: Urs Schwaller spricht für die CVP/EVP-Fraktion und lobt CVP-Bundesrätin Doris Leuthard als künftige Bundesrätin. Im übrigen will seine Gruppe alle bisherigen Bundesräte bestätigen und wird einen der beiden SP-Kandidaten unterstützen. Ziel sei es die Kontinuität und Stabilität zu sichern. Eine Abwahl von Widmer-Schlumpf lehnt er ab, denn die Untervertretung der SVP durch die SVP selber geschaffen worden.
GPS: Antonio Hodgers, Fraktionspräsident der Grünen, meint, es bestehe keine Konkordanz, was Konkordanz sei; deshalb seien die Mitglieder frei, das zu wählen, was sie für das Beste halten. Er will so eine Regierung schaffen, die allgemeine Orientierung gebe, die nötig seien, wie zum Beispiel in der Energiepolitik.
GLP: Gemäss Sprecherin der GLP, Tiana Moser, werde man anders als angekündigt der SVP keinen zweiten Sitz gewähren. Angesichts des missglückten Nominiationsverfahrens sei das Vertrauen in die SVP gesunken. Vielmehr wird man Eveline Widmer-Schlumpf wiederwählen; sie empfiehlt zudem Alain Berset als neuen SP-Bundesrat.
BDP: Schliesslich empfiehlt Hansjörg Hassler Eveline Widmer-Schlumpf aus Ueberzeugung als Bundesrätin. Der Sonderfall sei nicht von der BDP, sondern von der SVP mit dem Ausschluss ein ganzen Kantonalpartei geschaffen worden. Er lobt sein Regierungsmitglied auch wegen ihrer bisherigen Arbeit in der Bankenfrage genauso bei der Energiewende: befliessen, konsequent und mutig sei ihr Handeln.

Die Wahl
Nach einer Stunde schreitet man zur Wahl. Wahlberechtigt sind 245 ParlamentarierInnen, denn Peter Föhn, SVP-Ständerat aus dem Kanton Schwyz, konnte wegen einer Wahlbeschwerde nicht rechtzeitig vereidigt werden. Das absolute Mehr liegt demnach bei 123 Stimmen.

Als Erste wird die Doris Leuthard wiedergewählt. Sie schafft es komfortabel mit exzellenten 216 von 227 gültigen Stimmen. Sie weiss damit fast die ganze Bundesversammlung hinter sich.
Damit steigt die Spannung, denn es geht es um die vielbeachtete Besetzung des Sitzes von Eveline Widmer-Schlumpf. Und sie schafft es auf Anhieb! Sie vereinigt 131 Stimmen auf sich; 63 sind für Hansjörg Walther und 41 entfallen auf Jean-Francois Rime. Mitte/Links hat sich damit durchgesetzt, SVP und FDP haben ihre gemeinsame Stimmkraft auf die beiden SVP-Kandidaten verteilt – fast genau im Verhältnis der beiden Fraktkionen und ihren Zugewandten. Damit ist auch diese Entscheid eindeutig. Der von der SVP angekündigte Unterbruch der Wahl bleibt aus, während bei der BDP die Freude gross ist. Bei der SVP wird in den Wandelhallen die Volkswahl des Bundesrats wieder ins Spiel gebracht. Doris Fiala, FDP-Nationalrätin meint, Goethe zitierend, an die Adresse der SVP: “Wer das oberste Knopfloch verfehlt, hat Mühe mit dem Zuknöpfen”.
Ueli Maurer, bisherige SVP-Bundesrat, ist mit 159 Stimmen gewählt worden. 41 ParlamentarierInnen stimmten für Hansjörg Walther, 13 für Luc Recordon von der GPS. Damit macht Maurer ein gutes Resultat – und distanziert sich klar von Walther, der ihm als einziger hätte gefährlich werden können.
Unbestritten ist die Wiederwahl von Didier Burkhalter, dem ersten Romand und FDP-Bundesrat, der wiedergewählt werden muss. Son résultat: 194 voix! Jean-François Rime est retenue par 24 parlamentaire.
Das Wahlprozedere wird an dieser Stelle unterbrochen. Caspar Baader fordert einen zweiten Bundesratssitz für die SVP, bevor es um die Wiederwahl von Simonetta Sommaruga geht. Er erklärt, dass Hansjörg Walther nicht mehr zur Verfügung steht, dass man aber Jean-François Rime in den Bundesrat wählen solle – er treten bei jedem Wahlgang an, denn die FDP habe nicht geschlossen für die SVP gestimmt. Ursula Wyss kontert: Die Ankündigung sei ein simpler Racheakt, der nicht erstaune. Denn seit 10 Jahren trete die SVP bei jeder SP-Wahl als Konkurrentin an. Sie bittet die anderen Fraktionen, jetzt Wort zu halten. Die FDP schweigt offiziell, inoffiziell wird das Störmanöver der SVP kritisiert.
Trotz SVP-Attacke: Simonetta Sommaruga wird mit glanzvollen 179 Stimmen gewählt. Rime kommt auf 61 Stimmen, der Stärke seiner Fraktion. Die Antwort der anderen Parteien ist damit auch klar.
Nun kommentiert die FDP-Fraktionspräsidentin die Lage. Sie beschuldigt die SVP, mit ihrem Pauschalangriff auf bisherige Bundesräte unglaubwürdig geworden zu sein. Für ihre Fraktionsmitglieder lege sie die Hand ins Feuer, dass sie im zweiten Wahlgang für die SVP gestimmt hätten. Sie brüskiere damit ihren einzigen Verbündeten bei Bundesratswahlen. Sie empfiehlt die Wiederwahl von Johann Schneider-Ammann, dem ehemaligen Unternehmer, der die Sozialpartnerschaft hoch halte und hinter dem alle, ausser der SVP stehen.
Die Vereinigte Bundesversammlung gibt auch hier ihre eindeutige Antwort. Gewählt ist mit respektablen 159 Stimmen Johann Schneider-Ammann. Rime kommt in diesem Wahlgang auf 64 Stimmen. Auch hier ist die Analyse recht einfach: Alle Fraktionen stimmten grossmehrheitlich entsprechen den Empfehlungen.
Zum Schluss steht die Wahl eines neuen SP-Kandidaten an. Ursula Wyss präsentiert in Französische die beiden Kandidaten, Pierre-Yves Maillard, Waadtländer Regierungsrat, und Alain Berset, Freiburger Ständerat.
Im ersten Wahl lautet das Ergebnis: Absolutes Mehr ist 122. Stimmen haben erhalten: Berset 114, Maillard 59, Rime 59, Marina Carrobio 10. Da keine Kandidatur das absolute Mehrheit erreicht hat, findet hier ein zweiter Wahlgang statt. Favorit ist mit diesem Resultat aber der Freiburger Alain Berset. Sein Ziel verfehlte er knapp, letztlich wegen einer dispersen Gegnerschaft, bestehend aus Tessiner PolitikerInnen, aus SVP-Stimmen und einer gewissen Uneinigkeit der Mehrheit bezüglich der beiden Kandidaten.
Im zweiten Wahlgang wird Aain Berset mit 126 Stimmen gewählt. Die anderen Stimmen gehen zu 64 an Maillard und an 53 an Berset. Der 39jährige Freiburger Oekonom erklärt unmittelbar danach in vier Sprachen die Annahme der Wahl.

Der Kommentar
Die Bundesratswahl 2012 ist vorbei. Gewählt wurde der Status Quo. Die Schweiz in der Bedrohung entschied sich, keine bisherigen BundesrätInnen abzustrafen grösstmöglichen personalpolitischen Konsens zu suchen. So wurden alle amtierenden Reigerungsmitglieder teilweise mit sehr guten Stimmenzahlen wiedergewählt. Für die zurückgetretene Micheline Calmy-Rey zieht der bisherige Freiburger Ständerat Alain Berset in die Bundesregierung ein.

Anders als im Vorfeld medial vielfach vermutet, gab es keine Ueberraschungen, und es brauchte es nicht unzählige Szenarien, um die Mechanik der Bundesratwahlen zu durchschauen. Zu hoch waren die Interessen der bestehenden BundesrätInnen und ihrer Parteien, – zu fehlerhaft war das Niveau des SVP-Angriffs. Am Schluss war die Kontinuität im Bundesrat entscheidend, verbunden mit einer gewählten Stabilität, die der Mehrheit im neuen Parlament nahe kommt.

Ohne es übertreiben zu wollen: die heutige Wahl war eine Richtungsentscheidung. Die Mitte wurde bei den Parlamentswahlen gestärkt, und sie ist heute nicht mehr nur mit der rechten Hälfte des Parlaments, nein, auch mit der linken mehrheitsfähig. Die Mitte besteht dabei nicht mehr aus CVP und FDP, sondern aus CVP und BDP, unterstützt von GLP. SVP und FDP mögen dagegen nicht mehr ankommen, was ihren Zusammenhalt schwächt. Von der Neuinstallierung einer bürgerlichen Regierung, wie man es verschiedentlich ankündigte, ist man heute soweit weg wie noch nie.

Um es aber klar zu sagen: SP, CVP und BDP, im Bundesrat mit vier PolitikerInnen vertreten, verfügen nur im Ständerat eine gesicherte Mehrheit, im Nationalrat jedoch nicht. Doch haben sie mit der neuen Energiepolitik, die sie gemeinsam gestalten wollen, die entscheidende Brücke gebaut, dass GPS und GLP für ihre BundesrätInnen stimmen konnten. Damit sicherten sie die Basis für die klare Wahl von heute – auch von Eveline Widmer-Schlumpf und iher BDP.

Frohlocken kann heute die SP: Obwohl die Nachfolge von Micheline Calmy-Rey als Letzte geregelt wurde – und das geflügelte Wort gilt, dass die Hunde den Letzten beissen können – setzte sie sich dank hohem Können und Geschick auf der ganzen Linie durch. Sie hat über zwei Bundesratswahlen hinweg den Frauen –und Männersitz zwischen den Sprachregionen ausgetauscht. Sie hat nun ihre zwei WunschkandidatInnen in der Bundesregierung. Und sie hat sich, anders als auch schon, im politischen Zentrum mindestens personelle Unterstützung verschafft.

Die FDP hingegen entging einer Abstrafung für die Parlamentswahlen. Sie unterstützte die SVP, wurde dafür vom rechten Partner nicht belohnt. Die SVP griff nicht nur die SP, auch den FDP-Vertreter Johann Schneider-Ammann. Selbst wenn Kandidat Walther dafür nicht zu haben war. Erfolglos, denn die Vereinigte Bundesversammlung gab ihre eindeutige Antwort auf das Störmanöver – und sie belohnte die FDP mit ihrer Regierungsarbeit, die selbstbewusst auf sich ausgerichtet, aber auf alle Seiten offen ist.

Verliererin der heutigen Wahl ist die SVP. Sie ist mit knapp 27 Prozent Wähleranteil unbestritten die stärkste Partei und auch die erste Fraktion unter der Bundeskuppel. Proporzwahlen haben ihr geholfen, Profil und damit Unterstützung zu gewinnen; bei Majorzwahlen, wie in den meisten Kantonen für den Ständerat, wird das schon schwieriger, denn hier entscheiden Allianzen über den Erfolg und Misserfolg. Bei Bundesratswahlen schliesslich ist Verlässlichkeit im politischen Verbund das A und O. Genau das fehlte mindestens heute: Kein Wahlsieg der SVP trieb die Oeffentlichkeit, alles für die SVP zu tun. Kein Kandidat aus der zweiten Reihe überzeugte so, dass man nicht um ihn herum kommen konnte. Und keine Partei- und Fraktionsspitze sicherte mit einem geordneten Nominierungsverfahren den 2. Bundesratssitz ab.

Die Schweiz hat damit eine neue Regierung, die ähnlich ist wie die alte. Sie muss sich als Kollegialbehörde finden, was angesichts der personellen Zusammensetzung durchaus möglich ist. Denn die Aera der Alphatiere im Bundesrat ist mit dem Ausscheiden von Personen wie Christoph Blocher, Pascal Couchepin und Micheline Calmy-Rey vorbei.

Es bleibt aber auch Unerledigtes: Die Konkordanz sei gebrochen worden, hiess die härtere Variante der SVP-Anklage; in der weicheren kennzeichnete man die heutige Wahl so, dass die Konkordanz nicht wieder hergestellt worden sei. Angekündigt wurde eine Sonderdelegiertenversammlung, die Ende Januar 2012 über die Position der Partei im Regierungssystem entscheiden solle. Die wird, wie bisher, zwischen Regierungsverantwortung und Oppostion sein. Erwähnt wurde heute auch, nun ganz auf die eingereichte Volksinitiative zur Volkswahl des Bundesrates zurückzugreifen. Die Auseinandersetzung dazu muss geführt werden.

Denn es ist das Recht der SVP, sich zu wehren; weniger berechtigt ist indessen, den Fehler für die missratene Wahl ausschliesslich bei der Konkurrenz zu suchen, denn die SVP verhielt sich trotz gemässigtem Zweierticket mehrfach ungeschickt. Ihr ist zu raten, die heutige Nicht-Wahl als Denkzettel aufzufassen, sich an Haupt- und Gliedern zu erneuern, und aus diesem Prozess heraus, einige in- und extern gut abgestützte Kandidaturen für die kommenden Bundesregierungen zu aufzubauen.

Heute wurde, so meine Bilanz, die Konkordanz nicht abgeschafft, denn sie gründet tief in Kultur und Struktur der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Nicht befördert wurden indessen die Regierungskonkordanz, die nach 2003 und 2007 zum dritten Mal gelitten hat. Den Stand der Dinge hat der grüne Fraktionspräsident, der Genfer Antonio Hodgers, vor der Wahl treffend auf den Punkt gebracht: Es besteht keine Uebereinstimmung mehr, was die Ueberstimmung zwischen den Parteien bei Bundesratswahlen sein soll. Konkordanz verkommt so zum inflationär verwendete Unwort bei Bundesratswahlen – was eigentlich nicht sein darf! Was für die Einen apodiktisch die alte Arithmetik ist, sind für die Andern ebenso unversöhnlich die Inhalte. Vielleicht gibt es einen Ausweg über die Köpfe. Das jedenfalls sagen eigentliche auch alle Bevölkerungsbefragungen. Für sie ist Konkordanz, wenn ein Team, das kooperieren will, die Herausforderungen der Zukunft gemeinsam anpackt. Ein Wahlsystem, das dem mehr Rechnung trägt als das jetzige, könnte hier hilfreich sein.

Claude Longchamp