Das bürgerliche Lager ist nicht mehr

Seit Wochen umtreibt mich ein Thema, das sich in der jüngsten Ständeratswahl im Kanton Bern so klar gezeigt hat: Das bürgerliche Lager gehört der Geschichte an.

topelement
Orlando im heutigen Bund, als Illustration zur Berner Ständeratswahl, die ich in einem ausführlichen Interview analysierte.

Im Vorfeld der Berner Ständeratswahlen war viel vom bürgerlichen Schulterschluss die Rede. Nahmhafte Wirtschaftsverbände empfahlen ihn, und die SVP strebte ihn nach dem ersten Wahlgang an. Die ungeteilte Standesstimme diente als Begründung, dass sich an der Zusammensetzung – 1 SVP, 1 BDP – nichts ändern sollte.
Die faktische Szenerie war in dessen anders. Alles begann mit der Ankündigung der Ständeratskandidatur der FDP – gegen zwei Bürgerliche. Um sich Vorteile bei den Nationalratswahlen zu verschaffen, zogen auch verschiedene Kleinparteien mit eigenen Bewerbungen nach. Selbstredend nominierte auch die Linke, um, wie zu Zeiten Sommarugas, wieder im Ständerat vertreten zu.
Man weiss es, wie es kam: Im ersten Wahlgang setzten sich Amstutz, Luginbühl und Stöckli an die Spitze der BewerberInnen und markierten so ihre Favoritenrollen für die rechte Wählerschafte, jene der Mitte und für das linke Elektorat. Im zweiten Umgang zogen Luginbühl und Stöckli an Amstutz vorbei, womit sich die Berner Standesvertretung erstmals aus einem BDP- und ein SP-Mitglied zusammensetzt.

In der Erstanalyse habe ich die Behauptung aufgestellt, dass es das bürgerliche Lager in Bern, wohl auch anderswo nicht mehr geben würde. Sicher, im Grossen Rat zu Bern, wo SVP, BDP und FDP die Mehrheit haben und einer rotgrün beherrschten Regierung gegenüber stehen, stimmt man häufig gemeinsam. Nicht vergessen darf man indessen, dass die gleichen Parteien 2010 angetreten waren, eine Wende im Regierungsrat herbeizuführen – und grandios scheiterten, nicht zuletzt, weil die Zusammenarbeit nicht klappte, welche der SVP zwei Sitze und damit die Führungsrolle hätte bringen sollen.
Man kann das alles als Phänomen nach einer konkreten Parteispaltung aus der traditionellen SVP heraus abtun, mit der eine gemässigte Zentrumspartei à la bernoise, und eine rechtskonservative Partei mit Spuren des Zürcher Vorbilds entstanden sind. Es ist aber auch möglich, das als Symptom zu nehmen, dass sich mehr als nur vordergründiges verändert.

Was meine ich damit?

Die politische Soziologie lehrt, dass die europäischen Parteien aus der Verarbeitung grundlegender gesellschaftlichen Spaltungen, wie sie die Reformation, die französische, bürgerliche, industrielle und russische Reformation hervor gebracht haben, entstanden sind. Formiert wird dies seither durch den Rechts/Links-Gegensatz, wobei bürgerlich die Abgrenzung gegen links bezeichnete, egal aus welcher historischen Konstellation oder sozialen Schicht die Wähler kamen.

Nun hat die Entwicklung von Gesellschaft und Politik der letzten 30 Jahre gezeigt, dass einiges davon nicht mehr stimmt. Neue Konfliktlinien sind entstanden; Werthaltungen, die bisher unbekannt waren, sind mit nachrückenden Generationen von Bedeutung geworden. Der Fächer der Parteien hat sich so verändert. Weltanschaulich mach das Wort “bürgerlich” kaum mehr Sinn, eher spricht man von nationalkonservativen Strömungen, vom liberalen Pol, von christlicher Fundierung von Parteien, oder von Wertesynthesen, die als einzige die Ueberlebensfähigkeit sichern.

Die Wahlen 2011 haben das eindrücklich bestätigt. Selbst im Nationalrat gewinnen die Polparteien nicht mehr. Vielmehr zeichnen sich drei, allenfalls sogar vier Lager an: die hegemoniale SVP im rechten, die rotgrünen Parteien links, das neu aufgemischte Zentrum, allenfalls eine Position Mitte/Rechts. Begründet wird dies damit, dass die bisherigen Parteien ihren Standort nicht mehr in der übergeordneten Gemeinsamkeit suchen, sondern in der Eigenprofilierung, die, durch Abgrenzung am besten markiert werden. Die Polarisierung der letzten Jahre hat nicht nur die ideologische Distanz zwischen den Parteien an den Polen erhöht, sie hat auch das traditionelle Zentrum ausgezehrt, bis es, mit neuen Parteien und neuen Inhalten, in diesem Wahlherbst neu entstanden ist.

Schliesst man sich der Analyse politischer Soziologen, wie der meines St. Galler Kollegen Daniele Caramani an, dann ist das alles nicht einfach so geschehen, sondern Ausdruck der neuen Konfliktlinien, welche die Parteiensysteme prägen: Zu diesen zählt er einmal die Oekologisierung, welche die Grünen als Pioniere entstehen liess, aber auch gemässigte Parteien wie die Grünliberalen hervor gebracht hat und innerhalb verschiedener bestehender Parteien zu einer Neuausrichtung geführt hat. In der aktuellen Diskussion markiert der Ausstieg aus der Kernenergie diese Konfliklinie, welche die Parteienlandschaft neu aufteilt. Damit nicht genug, auch die Europäisierung der Politik ist für den St. Galler Professor eine neue Spannungslinie, die zur Neudefinition der Parteien geführt hat. Der Wandel der SVP als konsequentester Partei gegen die EU zählt dazu, aber auch die Neupositionierung der FDP, die für die wirtschaftliche Offenheit, zunehmend aber gegen das gesellschaftliche Pendant ist, lässt sich hier nennen.

Rekapituliert man das alles, um den Blick auf die aktuellen Parteienlandschaft zu richten, kann man, ganz anders als es die Wahlkampf-Rhetorik der letzten Wochen suggerierte, wohl begründet zum Schluss kommen, dass es das bürgerliche Lager nicht mehr gibt, dass die Schweizer Parteilandschaft aufbricht, und das wir unterwegs zu neuen Ordnungsmustern des Politischen sind, wie die Nationalratswahlen 2011 zeigten, wie aber auch aus dem Wandel der Berner Ständeratsvertretung abgeleitet werden kann. Denn da stimmte das Zentrum mit links, was der Definition von bürgerlich zu tiefst widerspricht.

Claude Longchamp