4 Szenarien für die anstehenden Bundesratswahlen

“Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt!”, lautet eine Volksweisheit. Das beherzigend, verzichte ich auf eine Prognose zu den anstehenden Bundesratswahlen. Dafür skizziere ich hier meine vier Szenarien, von denen jedes etwas an sich hat. Konkreter werde ich heute Abend in einem Vortrag vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft in Bern.

brw2011

Erstens, der Status Quo: Der neue Bundesrat wäre demnach, parteipolitisch gesprochen, der alte. Die Vakanz auf dem SP-Sitz von Micheline Calmy-Rey wuürde durch eine Vertretung der SP aus der Romandie ersetzt. Vorteil dieses Szenarios ist die personelle Stabilisierung des Bundesrates, der in den letzten 4 Jahren fast vollständig ausgewechselt worden ist. In vier Jahren kann man besser beurteilen, ob sich auch die BDP weiter etabliert hat und zu einer vergleichbaren Kraft geworden ist wie die FDP oder die CVP, und ob der Taucher der SVP bei der jüngsten Wahl mehr als eine Episode war. Je nachdem kann man dann verbindliche Entscheidungen, etwa im Sinne von Szenario 2 oder 3 treffen. Klar ist, dass die SVP mit diesem Szenario nicht zufrieden sein kann und der Machtkampf zwischen ihr und den anderen Parteien andauern wird. Immerhin, die Partei bekäme so die Chancen, einen oder zwei ausgewiesene und breit akzeptierte Bundesratskandidaturen aufzubauen. Selbstredend hat vor allem die BDP ein Interesse an dieser Perspektive, auch wenn man die neue Regierung nur noch beschränkt nach dem Konkordanzmuster hergestellt kritisieren würde.

Zweitens, die Rückkehr zur Zauberformel: BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf würde dem neuen Bundesrat nicht mehr angehören. Da sie ihre Kandidatur angemeldet hat, wird sie in dieser Perspektive abgewählt. An ihre Stelle tritt sofort ein Politiker der SVP. Der Vorteil dieser Variante ist evident: Die Grösse der Parteien würde zum entscheidenden Kriterium für die Zugehörigkeit im Bundesrat. Indes, die vier Parteien sind nicht mehr die gleichen wie 1959, als man die Formel begründete. Und damals wurde sie eingeführt, um die Vorherrschaft der FDP/SVP von Mitte/Links her zu brechen. Jetzt wäre es ziemlich anders, denn die SVP und FDP erhielten im Bundesrat ein Mehrheit. Das führt zur Schwäche der Variante: Beide Parteien verfügen weder im Parlament noch in der Bevölkerung über eine Mehrheit; sie könnten aber den beschlossenen Ausstieg aus der Atomenergie empfindlich bremsen. Zudem würden ausgerechnet die beiden grössten Wahlverlierer in der Regierung gestärkt. Unzufrieden wären die Linksparteien und die UmweltschützerInnen. Interessiert an dieser Variante sind die SVP und die FDP.

Drittens, die Etablierung der neuen Mitte zwischen den Polen: In diesem Szenario bleibt BDP-Bundesrätin Widmer-Schlumpf in der Bundesregierung. CVP, BDP und GLP treten in eine lockere Fraktionsgemeinschaft ein. Sie bleiben eigenständige Parteien, die je eine Fraktion bilden. Sie bilden aber ein übergeordnetes Gremium, das mit einem qualifizierten Mehr übergeordnete Standpunkte diskutieren und beschliessen kann, die für alle drei Fraktionen Gültigkeit bekommen. Gemeinsam melden sie den Anspruch auf zwei Sitze im Bundesrat an, welche das Zentrum abdecken – und zwar zu Lasten der FDP, die als Mitte/Rechts-Partei eine Sitz verlöre. Zur Hälfte ist dieses Szenario gleich wie das zweite; die SVP erhielte als grösste Partei der Schweiz zwei Sitze. Allerdings würde dies nicht gegen Bundesrätin Widmer-Schlumpf gerichtet sein, sondern gegen Johann Schneider-Ammann. Vorteilhaft wäre, dass die Zusammensetzung den Kräfteverhältnissen unter den Bundeskuppel angepasst würde. Nachteilig selbstredend, dass nach der SVP auch die FDP an der Konkordanz Zweifeln würde. Nutzniesser dieser Variante sind letztlich alle – ausser der FDP.

Viertens, jeder gegen jeden: Auch in diesem Szenario kommt es zur Wiederwahl der BDP-Bundesrätin Widmer-Schlumpf. Danach brechen aber alle Dämme. Die SVP attaktiert erfolgreich die FDP. Johann Schneider-Ammann würde aus dem Amt gedrängt, indes erneut kandidieren, und zwar im letzten Umgang als Nachfolger für SP-Bundesrätin Calmy-Rey. Hier würde er reüssieren. Die so ausgelösten Turbulenzen sind das Ende des Wiederbelebungsversuch der Konkordanz. Die Regierung wäre weniger aus Strategie entstanden, eher als Unfall. Sie würde einzeln zum Parlament passen, gesamthaft aber nicht. Mit einer erhöhten Diskussion über die Wahl des Bundesrates, sei es aus einer Volkswahl heraus oder aber mit einer Listenwahl im Parlament, wäre zu rechnen. Geführt würde die Debatte kaum mehr von der SVP, dafür von der SP und der GPS und vielleicht auch der GLP, welche die Zeche bezahlen würden. Mit Instabilitäten der Regierung wäre zu rechnen, mit Protesthaltungen aus der Romandie aus. Gewinnerin dieser Wahl wäre das bürgerliche Lager, das so vielleicht wieder zusammen finden würde – allerdings zu Lasten eine Variante, die man nicht mehr konkordant bezeichnen könnte.

Und zum Schluss noch dies: Vielleicht kommt es noch mehr anders, als man denkt. Dann zum Beispiel, wenn die Reihe der Wahlen nicht nach der Anciennität erfolgen würde, sondern im offenen Kampf. Das würde mit Sicherheit zu einer neuen Regierung führen. Sie hätte, genau wie das Verfahren, wohl den Mackel, unberechenbar zu sein.

Claude Longchamp