Schwarz und weiss – oder fliessende Uebergänge

Alles ist im Fluss, sagte Heraklit von 2500 Jahren. Das Wasser bewegt sich, reagiert auf das Gefälle, die Steine und den Wind. Und dennoch: Der Fluss behält Konturen, folgt seinem Bett, schwillt im Frühling an und trocknet im Sommer aus. Selbst wenn sich Vieles bewegt, sind wir in der Lage, die Richtung der Flüsse zu erkennen – sehr wohl im grossen Ganzen, auch wenn die Details immer wieder für Ueberraschungen gut sind.

Literaturclub vom 18.10.2011
Cafe Postgass in Bern, wo ich für den Literaturclub meine Bettlektüre fürs Wochenende vorgestellt habe …

Ich war erstaunt, wie in den letzten zwei, drei Wochen, alles was ich gesagt habe, zur unabänderlichen Vorhersage wurde, schwarz auf weiss, ohne fliessende Uebergänge. Geheuer ist mir die mediale Konstruktion der Prognose nicht. Denn sie erhöht das, was man weiss, um das, was man nicht wissen kann.

Da habe ich es geschätzt, dass mir der Literaturclub des Schweizer Fernsehens fünf Tage vor der Wahl eine carte blanche gegeben hat, um ein Buch meiner Wahl vorzustellen. Spontan habe ich zu “Geschichte der Schweiz – einmal anders” gegriffen.

Verfasst wurde das belesene und geistreiche Bändchen von Joelle Kuntz, einer Westschweizer Historikerin, heute als Kolumnistin bei Le Temps tätig. Sie kennt die Deutschschweizer Geschichtsschreibung à fonds, negiert sie nicht, dekonstruiert sie aber als Teil der grossen Mythenbildung. Dem Selbstbewusstsein der Schweiz im Spiegel stellt sie die Strukturen des Landes gegenüber, die die Ueberhöhungen korrigieren, sie mit Tiefe versehen.

Deshalb ist die andere Geschichte der Schweiz eine der Städte, eine des Geldes, eine des Schreibens, die im Urbanen entstehen. Den Nabel der Schweiz findet sie nicht an den Gestaden des Vierwaldstättersees, jedoch in Genf, in Zürich, in Bern. Zürich ist die Lunge der Schweiz, die atmet und den Körper mit frischer Luft versorgt. Bern ist der Kopf, der entscheidet, was richtig und was falsch ist. Und Genf ist die Geburt von Wirtschaft und Staat. Denn die moderne Schweiz, so die These von Kuntz, ist mit der Reformation entstanden, dem Entstehen eines städtisch-bürgerlichen Bewussstseins, das sich von dem katholisch-halbfeudalen der Vorzeiten abgrenzte, das den Landklöstern urbane Kirchen gegenüber stellte, das sich mit dem Kapitalismus verband, der das enge auf sich konzentrierte zur Welt öffnete.

Es wäre zu einfach zu denken, Kuntz sei eine eingebildete Dame aus dem weltgewandten Genf. Wer sich durch die leicht lesbaren 250 Seiten des Buches ziehen lässt, spürt, dass da eine Historikerin über die Schweiz schreibt, die weiss, von was sie spricht, sich aber den Blick durch die bisherige Geschichtsschreibung nicht versperren lässt. Genau deshalb habe ich das Buch ausgewählt, um es in 90 Sekunden zu porträtieren. Denn nicht das Vorherrschend-Eindeutige macht die Schweiz so spannend, sondern das Vielseitig-Paradoxe, das in der Geschichte so oft oszilliert hat, und es auch in der Gegenwart immer wieder tut. Oder im Gefolge Heraklits: Nicht Alles ist im Fluss, aber Einiges bewegt sich. Auch jetzt!

Claude Longchamp