Am Donnerstag war ich in Zug. An der Kantonssschule. Im Rahmen einer Studienwoche für 17jährige GymnasiastInnen hielt ich einen Vortrag über Wahlanalysen. Dabei ging es mir unter anderem darum, über Möglichkeiten und Grenzen der Wahlprognose bei Nationalratswahlen zu berichten.
J. Scott Armstrong, der einen dicken Wälzer über Principles of Forecasting geschrieben hat, kommt zu einem wesentlichen Schluss: Kein noch so entwickeltes Prognosetool ist perfekt. Am besten verwendet man deshalb mehrere Instrumente nebeneinander, um zu vergleichen, was sie ergeben. Gemeinsame Ergebnisse sind wahrscheinlicher. Divergente sind Zeichen für Vorsicht.
Anahnd der verschiedenen Informationstools zu den Nationalratswahlen in 14 Tagen kann man das wie folgt ausführen.
Bisher gibt es: Kantonale Wahlübersichten, WählerInnen-Befragungen und Wahlbörsen.
Wahlübersichten haben einen Vorteil. Sie beziehen sich auf effektive Wahlen. Ebenso gewichtig ist ihr Nachteil. Sie liegen zwischen 6 Monaten und über 40 Monaten zurück. Zudem sind die Angebote unterschiedlich, es variiert teilweise das Wahlrecht, und vor allem die Beteiligung ist ungleich. Wahlbefragungen sind da aktueller. Ihre Qualität hängt aber vom Zugang zur gesamte Wählerschaft ab (zum Beispiel auch zu AuslandschweizerInnen), und sie können durch eine selektive Auskunftsbereitschaft in ihrer Aussagegenauigkeit beeinträchtigt werden. In der Schweiz ist 10 Tage vor der Wahl Schluss mit der Publikation von Umfragen. Das ist dann die Zeit der Wahlbörsen, die bis zum Wahltag gemacht werden (dürfen). Sie basieren auf der Weisheit der Schwärme, der Kollektive, die interagieren. Ihre Prognosegüte hängt von der Zahl der Teilnehmenden ab. Je geringer sie ist, desto eher können einzelne Vögel den Schwarm irreführen.
2007 haben sich, wie es Armstrong sagte, alle Instrumente einigermassen bewährt. Die Kantonsanalyse unterschätzten die CVP, die sie im Wahljahr aufbäumte. Die Wahlbörsen waren bei grossen Parteien gut, bei kleinen aber schlecht. Die Wahlbefragungen waren insgesamt korrekt, überschätzten die SP aber etwas, und bildeten die Stärke der SVP nicht hinreichend genug ab. Die Effekte der letzten Tage, vor allem die Krawalle in Bern, die der SVP genützt haben, wurde als wichtigste Begründung hierfür erwähnt.
Und 2011? – Die aktuellen Tools haben drei Gemeinsamkeiten: Es legen BDP und GLP zu. Es verliert die FDP. Allenfalls auch die CVP. Die Grünen halten sich. Und unklar ist der Ausgang bei SP und SVP, denn die Instrumente widersprechen sich hier. Kantonsanalyse sehen die SVP auf der Plusseite, anders als die SP, die eher verliert, während Umfragen und Börsen tendenziell vom Gegenteil ausgehen.
Politisch gesprochen kann man sagen: Alle Hinweise, die wir heute haben, sprechen von einer Verstärkung der Mitte, allerdings neu auf drei Parteien aufgeteilt. Das relativiert die Polarisierung als bisher klarstes Interpretationsmuster deutlich. Noch ist unklar , ob die Polarisierung fortgesetzt wird, das heisst SVP und/oder Rotgrün zulegen oder nicht. Zwischenpositionen, wie die Mitte/Rechts-Position der FDP, haben es dagegen schwer, nachvollzogen zu werden.
LehrerInnen und SchülerInnen dankten mir für diese Klärung!
Claude Longchamp
PS:
Nur wenige Tage davor hielt ich einen ähnlichen Vortrag in St. Gallen. Das St. Gallen Tagblatt fasst meine Abwägungen unter dem Titel zusammen: “SVP verliert, SP gewinnt“. Soviel zur Zwangshaften Konstruktion einer Prognose durch gewisse Medien.
Wieso wird bei den SVP-Zahlen eigentlich die Parteispaltung nie berücksichtigt, sondern jeweils auf das Ergebnis der letzten Wahlen abgestellt?
Dito bei den Grünen.
Zunächst: Berücksichtigt sind die offiziellen Zahlen vom BfS. Bei einer Fusion kann man das ja einfach zweimal addieren, was noch einigermassen geht. Bei einer Spaltung geht das nicht, ohne willkürliche Aufteilungen.
Denn keine Untersuchung zeigt, dass die BDP nur von SVP Stimmen lebt, und die GLP nur von GPS-Wählenden unterstützt wird.
Oder haben Sie eine bessere Lösung, die nicht parteiisch ist.
Das hat übrigends nichts mit beiden Parteien zu tun, wird von uns seit 20 Jahren so gehandhabt, egal auf wen es zutrifft.
Man könnte die tatsächlich verlorenen Mandatsträger als Grundlage verwenden – bei der SVP gibt es solche Sitzverluste, bei den Grünen allenfalls auch.
Daran habe ich auch schon gedacht.
Doch das gibt alles andere als eindeutige Ergebnisse. Zum Beispiel im Kanton Bern:
. Ständerat: 1 von 1 oder 100 % sind übergetreten.
. Nationalrat: 2 von 9 oder 22,2%.
. Beim Grossen Rat kommt man auf rund einen Drittel der Stimmen.
Welchen Wert soll man nun nehmen.
Zudem: Das PolitikerInnen Wählende mit nehmen bei einem Parteiwechsler, hängt wohl am ehesten von Kumulierstimmen, denn die zeigen Personenbindungen am besten an. Dann kommt gleich nochmals auf andere Werte … je nach Person – und Kanton.
Deshalb habe ich es auch sein gelassen.
Den Wert, den man untersucht – also beispielsweise die Vertretung im Grossen Rat. Ich sehe aber die Problematik, die sie beschreiben durchaus. Gleichzeitig bin ich neugierig, wie die Interpretation der Wahlergebnisse ausfallen wird. Momentan erfolgen die Hinweise auf die erfolgten Parteispaltungen sehr zurückhaltend, interessanterweise auch von den betroffenen Parteien selbst.
Ich sage Ihnen meine Leitlinie jetzt schon.
Am Wahlsonntag ist Resultat Resultat. Sprich: Der Wähleranteil jeder Partei steht für sich, und er wird mit dem von 2007 vergleichen.
Am Wahlmontag wird es die ersten Analysen geben, auch zur Frage, wie viele (oeder wenige) SVP Wählende nun BDP gewählt, wie gross der Anteil GLP Wählende ist, der vormals bei der GPS war etc.
Da wird man das einschätzen können. Es wird aber nicht die einzige Frage sein, die interessieren wird.
Im Rückblick hat Ihre Leitlinie gut funktioniert. Vielen Dank!