Wahlprognose für den Kanton Zürich – durch die Journalistenbrille gesehen

Die Listen und KandidatInnen für den Nationalrat sind in allen Wahlenkreise bekannt. Jetzt beginnt das Rätselraten zu Sitzgewinnen und -verlusten. Die NZZ macht den Anfang – für den Kanton Zürich.

“Nur wenige Verschiebungen in der Zürcher Abordnung für den Nationalrat in Sicht”, übertitelt die NZZ vom Samstag eine ganzseitige Auslegordnung zu denkbaren Sitzverschiebungen im grössten Wahlkreis bei den anstehenden Wahlen. Legitimiert wird das Ganze durch ein Interview mit dem Kantonsstatistiker Peter Moser, das die Seite mit der Schlagzeile “Träges Parteiengefüge” firmiert (beides nicht online).

Da war, vermute ich mal, der Wunsch des Zeitungshauses der Vater der journalistischen Leseweise. Denn die nachgeschobenen Fakten sind anders:

Prognose von Peter Moser (leider auf seiner website nicht dokumentiert) zur Verteilung der 34 Zürcher Sitze im Nationalrat

Grafik_34_ZH_Nationalratsitze

Im Detail verrät sich Redaktor Stefan Hotz gleich selber: Denn sollte die GLP bei ihrer zweiten nationalen Kandidatur drittstärkste Kraft im grössten Kanton der Schweiz werden, wäre das auch in seinen Worten “ein historischer Erfolg”. Und sollte die CVP 2 ihrer 3 Sitze einbüssen, was er nicht ausschliesst, nennt er das vorsorglich schon mal “ein historisches Debakel”.

In der Tat: Zeitgenössisch auffällige Veränderungen in der Parteienlandschaft der Schweiz zeigten sich in Zürich meist früher und deutlicher: So der Niedergang des Wirtschaftsfreisinns, so die Polarisierung zwischen SVP und SP, so der Aufstieg und der Zwist der Grünen, so die CVP, die sich im urbanen Raum platzieren will.

Selbst Rene Zeller, Inlandchef der NZZ, nennt die politischen Verhältnisse in seinem Porträt zum Kanton Zürich ganz einfach “volatil” – zu deutsch: veränderlich. Das wäre meines Erachtens die bessere Einschätzung gewesen, und auch Grund, statt Sicherheit zu vermitteln, den Unsicherheiten nachzugehen. Denn die kantonalen Wahlen im Frühling sind verführerisch nahe an den nationalen, sodass man die Ergebnisse nur zu gerne überträgt. Doch gibt es drei Unterschiede, mindestens 2011:

. zunächst die Beteiligung, die national viel höher ist als kantonal, was gerade die Angaben für SVP und SP unsicher macht;
. dann das Wahlrecht, das kantonal und national bezüglich der Sitzverteilungen ungleich wirkt, indem die kleinen kantonal profitieren;
. und schliesslich das politische Klima, dass sich seit dem April erheblich verändert hat, dominiert doch nicht mehr der Reaktorunfall in Fukushima das politischen Klima, während heute der starke Franken, die Aengste zu Arbeitsplatzverlagerungen und die Bocksprünge des Investmentbanking den Rahmen der Wahl abgeben.

So schliesse ich: Besser als journalistisch-auktorial Ruhe verbreiten zu wollen, wäre es gewesen, die dieser Parameter Wirkungen auf grüne, linke, rechte und Zentrumsparteien aufzuzeigen.

Claude Longchamp