Zur Prognose von Wahlergebnissen

Wahlprognosen haben wieder Konjunktur. Vor allem in der mediatisierten Oeffentlichkeit sind zum unverzichtbaren Bestandteil der Wahlberichterstattung geworden. Leider haat das Bewusstsein zu Möglichkeiten und Grenzen, Stärken und Schwächen mit der Aufmerksamkeit nicht mitziehen können – nicht zuletzt, weil sich die wissenschaftliche Wahlforschung gerade in der Schweiz dem Thema nicht wirklich angenommen hat.

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Das ist in den USA anders, neuerdings auch in Deutschland in Bewegung geraten. Eben erschienen ist unter dem Titel “Die Prognose von Wahlergebnissen” die Konstanzer Dissertation von Jochen Gross, die sich den Wahlvorhersagen zwischen 1949 und 2009 annimmt. Untersucht wurden hier WählerInnen-Befragung, Wahlbörsen und Prognosemodelle. Geklärt wurden methodologische Aspekte, aber auch die empirische Leistungsfähigkeit.

Für Prognosen im eigentlichen Sinne eigenen sich gemäss Gross nur Modell und Börsen. Wahlbefragung erfüllen die Kriterien nicht wirklich, sodass sie fälschlicherweise mit Prognose gleichgesetzt werden. In Deutschland erfüllen die Modellrechungen von Gschwend diese Bedingungen und Wahlbörse, wie sie von der Uni Stuttgart vorgelegt worden sind. Die Leistungsfähigkeit der Tools zeigt indessen, dass alle Verfahren mit gewissen Probleme behaftet sind, egal wie gut ihre konzeptionelle Begründung ist oder der freie Zugang zu Sekundäranalysen gewährleistet wird. Deshalb kann man auch Wahlbefragungen in die Evaluierung miteinbeziehen.

Um die Prognosegüte zu testen, wurden in der Dissertation zahlreiche Hypothesen aufgestellt, die sich allerdings nur teilweise bewährten. Vor allem konnte der in der lehre zentral diskutierte Einfluss der Methodenwahl nicht bestätigt werden. Dies trifft auf den Stichprobenumfang wie auch die Befragungsdauer zu. Nicht belegebar ist zudem, dass at random Stichproben genauer sind als andere Verfahren der Befragtenauswahl. Verifiziert werden konnten hingegen, dass die Prognosegüte von der Wahlbeteiligung abhängig. Je tiefer sie ist, um so schwieriger sind Vorhersagen. Im Zeitverlauf vor der Wahl entstehen die besten Prognosen nicht ganz am Schluss, sondern gegen den Schluss hin. Denn in Befragungen unmittelbar vor der Wahl mischen sich störende Verweigerungseffekte mitein. Schliesslich sind Abweichungen bei kleinen Parteien wahrscheinlicher als bei grossen.

Was Praktiker schon lange sagen, vermutet nun auch die Wissenschaft. Wahlumfragen kommen ohne Gewichtungen nicht aus. Und der Einfluss solche Vorgehensweisen überlagert möglicher Effekte des methodischen Designs. Kritisiert wird dabei, dass bei solchen Ponderationen zu wenig Transparenz herrsche, widersprochen wird aber der verbreiteten Ansicht, dass Affinitäten zwischen Instituten und Parteien darauf eine Einfluss haben. Denn die Phase der politischen Gefälligkeit ist längst jener der professionellen Vorgehensweise gewichen.

So bilanziert die Doktorarbeit: Die Sonntagsfrage weise ein “durchaus passable Prognosegüte” auf, denn sie generiere “im Durchschnitt weitaus bessere Vorhersagen als ihre Ruf nahe legt.” Die Probleme variierten eher wahlspezifisch, denn instituts- oder methodenspezifisch, wie nicht zuletzt das Beispiel der Bundestagswahlen 2005 zeigte. Entsprechend verzichtet die Studie darauf, Wahlbörsen und Prognosemodelle eine systematisch höhere Leistungsfähigkeit zuzuschreiben. Wahlbörsen haben sich in den USA bewährt, sind allerdings nicht systematisch evaluiert worden. Offen gelassen wird die Frage, ob sie von WählerInnen-Befragung unabhängig sind, wie das von den Anbietern meist unterstellt wird. Bei Prognosemodell wird festgehalten, dass auch sie im Einzelfall erstaunliche Leistungen hervorbringen würden, sich die Anwendung aber auf Regierungsmehrheiten beschränkten, nicht auf einzelne Parteien.

So wertvoll die Dissertation auf dem Wege zu einem differenzierten Verständnis von Prognosen und ihren Instrumenten ist, so einseitig ist doch der mitschwingende Unterton, der stark von der akademischen Wahlforschung geprägt ist. Diese hat namentlich in der unmittelbaren Nachkriegszeit, inspiriert von der Psychologie und Oekonomie Fortschritte gemacht. Die Grundlagenforschung beschränkte sich allerdings weitgehend auf die ex-post-Erklärung von Wahlen, für die Gründe identifizierte, die theoretische Rückschlüsse erlauben. Die Prognose wurde weitgehend der angewandten Umfrageforschung überlassen, ohne dass sich da ein permanenter Gedanken- und Erfahrungsaustauch entwickelt hätte. Erst die Konkurrenz durch neuen Prognosetools, die entweder aus der Mathematisierung der Sozialwissenschaften stammen oder aber mit der Weisheit der (interagierenden) Schwärme begründet werden, beginnt sich die politikwissenschaftliche Wahlforschung ihrer Schwächen in der Entwicklung systematischer Prognosen von Wahlen selber bewusst zu werden.

Vieles von dem, was in Deutschland gilt, kann man für die Schweiz auch vermuten, mit aller Wahrscheinlichkeit in noch höherm Masse, wie meine gelegentlichen Kommentare zu diesem Thema erahnen lassen. Typisch hierfür auch, dass sich der Verband der Markt- und Sozialforscher zu Beginn des Jahres nicht Willens zeigte, ein entsprechenden Beobachtungssystem für die Schweiz aufzuziehen, dass die Informationen sichern würde, die für eine kritische Diskussion notwenig wären.

Claude Longchamp