Zwischen Momentaufnahmen und Prognosen

Die kantonalen Wahlen dieser Legislatur liegen hinter uns. Die Wählerbefragungen zu den Nationalratswahlen sind in der ganzen Breite lanciert. Und die Wahlbörsen zum Ausgang der Parlamentswahlen haben eingesetzt. Es ist Zeit, die Instrument untereinander zu vergleichen, hinsichtlich ihrer Aussagen, ihre Möglichkeiten und Grenzen. Ich mache es klar: Man hat keine treffsicheren Prognosen, aber auch nicht nur punktuelle Momentaufnahmen.

vergleichtotal
Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Die Bilanzen zu den kantonalen Wahlen haben einen grossen Vorteil: Sie bewerten reale Wahlen. Dem steht indess ein gewichtiger Nachteil gegenüber: Sie sind am Wahltag zwischen einem halben und dreieinhalb Jahre alt. Vor allem berücksichtigen sie alles, was im nationalen Wahlkampf passiert und kantonal kein Pendant hatte nicht.
WählerInnen-Befragungen wiederum sind nur simulierte Wahlen. Momentane Stimmungen fliessen in sie ein, die es wenig vorher nicht gab und die sich wenig später nicht bestätigen müssen. Umfrageserien des gleichen Instituts mindern diese Schwäche; Vergleiche zwischen Umfragen verringern auch Zufälligkeiten, bedingt durch die Stichproben. Ihr Problem bleibt, dass es, in der Schweiz wenigstens, kurz vor Wahlen nicht erlaubt ist, sie zu veröffentlichen.
Wahlbörsen schliesslich sind das spielerische Element vor Wahlen. Sie befriedigen das Wettfieber der Interessierten, zeigen dabei erstaunliche Ergebnisse. Ihr Vorteil: Sie dürfen bis zum Wahltag gemacht werden. Es gibt keine Gewähr, dass die ermittelten Kurse der Parteien zusammen 100 Prozent ergeben.

In der Wahlforschung hat sich ein Grundsatz durchgesetzt: Alle Instrumente haben viele Vorteile und einige Nachteile, weshalb keines perfekt ist. Die Unzulänglichkeiten lassen sich verringern, wenn man auf die gemeinsamen Aussagen der Instrumente setzt, und die Besonderheiten relativiert.
Eine Evaluierung dieser Art für die Wahlen 2007 zeigte: Die quantitativen Abweichung aller Instrument blieb recht gering. Der Vergleich der Benchmarks für kantonalen Analysen, WählerInnen-Befragung und Wahlbörsen verwies die Umfragen auf den ersten Platz, während die beiden anderen tools wegen qualitativ falschen Aussagen zum Wahlausgang nur nachfolgten.

Ich habe die Nachevaulierung, soweit möglich, auf die sechs Analyse-Instrumente 2011 angewandt. Und ich komme zu folgenden Schlüssen.

Erstens, BDP und GLP legen gegenüber 2007 überall zu. Bei der BDP ist das selbstredend der Fall, denn sie existierten bei der letzten Nationalratswahl noch gar nicht. Bei der GLP sind die prognostizierten Veränderungen, das gemessene Wachstum und die Wahlbilanzen so eindeutig, dass die Aussagen mit sehr sehr hoher Wahrscheinlichkeit gemacht werden kann,.

Zweitens, praktisch stabil ist die GPS; allenfalls kann sie etwas zulegen.

Drittens, eher zu den VerliererInnen zählen die CVP und die FDP. Wenn es hoch kommt, können sie sich halten. Das belegen kantonale Wahlen und Wahlbörsen, während Umfragen je nach Zeitpunkt ein kleines Plus für die eine oder andere der bürgerlichen Parteien sieht.

Viertens, widersprüchlich sind die Aussagen zu den Polparteien SVP und SP. Kantonal gab es einen Rutsch Richtung SVP. Der verflachte jedoch während der Legislatur. Nach der Abstimmung über die Ausschaffungsinitiative schwappte er nochmals hoch. Mit dem Unfall in Fukushima wurde auch das neutralisiert, sodass heute selbst die Parteileitung hochtrabende Erwartungen zurück buchstabiert. In den WählerInnen-Befragungen und in den Wahlbörsen bleibt das nicht ohne Auswirkungen. Die SP wiederum verlor in der ersten Legislaturhälfte viel, konnte den Rückgang aber verlangsamen. Der Programmparteitag 2010 stoppte die Aufholarbeit. Seither dominiert die Feststellung, die SP werde beschränkt verlieren; nur OptimistInnen in Wahlbörsen rechnen mit dem Gegenteil.

Fünftens, mit einer Bi-Polarisierung rechnet man kaum mehr. Festgehalten wird, dass das Zentrum gestärkt aus den Wahlen hervorgehen könnte, gleichzeitig aber parteipolitisch auch fragmentierter den je wäre. Denn es dürften GLP und BDP wachsen, damit die kleinen zulegen, während die CVP sich im besten Fall dazwischen behaupten kann. Nicht wirklich etablieren konnte sich die Mitte/Rechts-Position, wie sie von der FDP mit der Fusion mit den Liberalen gesucht wurde. Jedenfalls ist daraus nicht automatisch eine Erfolgsformel geworden. Wenn bei den Polparteien die Unsicherheiten am grössten sind, hat das einen Grund: Ihr Ergebnis hängt von der Mobilisierung ab. Diese ist, bei knapp 50 Prozent Beteiligung, erheblich von polarisierenden Figuren und Themen abhängig, von intensiver medialer Aufmerksamkeit hierfür und von der Hoffnung, die Wahl entsprechender Parteien könne die Politik in der Schweiz neu ausrichten. Das alles ist im Moment unsicher.

Was also weiss man 60 Tage vor der Wahl? – Mehr als die von den PolitikerInnen gerne zitierte “reine Momentaufnahme”, aber auch weniger als eine “gesicherte Prognose”, wie es von einigen JournalistInnen regelmässig inszeniert wird.

Claude Longchamp