Warum die Wahlbeteiligung in kleinen Gemeinden – bei kommunalen Wahlen – sinkt und in Städten – nationalen Wahlen – steigt.
Als Student schrieb ich in den frühen 80er Jahren gerne über Lokalpolitik. Einer meiner Mentoren meinte damals: Da machen die Bürger noch mit. Denn sei verstehen, worum es geht, und sie kennen die Kandidaten, die sich zur Wahl stellen.
Das gilt so einfach nicht mehr, wenn man sich die Ergebnisse der jüngsten Studie von Andreas Ladner ansieht, der die Daten zur kommunalen, kantonalen und nationalen Wahlbeteiligung von 1988 bis 2009 analysiert hat.
Zu den Fakten
In Gemeinden über 5000 EinwohnerInnen ist zwischenzeitlich die Wahlbeteiligung bei eidgenössischen Wahlen höher als bei kommunalen. Nur in Gemeinden unter 2000 ansässigen Personen geht man noch eher den Gemeinde- als den Nationalrat bestimmen.
Generell gilt, dass die Beteiligung als kommunalen Wahl gesunken ist. Zwar ist sie in kleineren Gemeinden immer noch grösser als in Städten. Der Rückgang innert einer Generation ist aber gerade dort mit mehr als 10 Prozentpunkten beträchtlich.
Steigende Mobilität und damit verbunden sinkene Ortsverbundenheit sieht Politologe Ladner als einer der Gründe für die Verlagerung an. Die Parteien beklagen Rekrutierungsprobleme, sodass Kampfwahlen zu Seltenheit werden. Das schwächt die Mobilisierungskraft von Wahlen. In den Städten ist das anders, wo die Konflikthaftigkeit der organisierten Politik angesichts steigender Probleme und leerer Kassen grösser geworden ist, was die durchschnittliche Wahlbeteiligung über die Zeit stabilisiert hat, – indes nicht überall das Sitzleder der Gewählten.
Bei nationalen Wahlen kommt das alles noch deutlicher zum Ausdruck. In den Städten geht heute wieder mehr als die Hälfte wählen, auf dem Land sind es weniger als 50 Prozent.
Zur Interpretation
Der Wandel hier angezeigte Wandel der politischen Mobilisierung überrascht nicht wirklich. Denn seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts dachten PolitikwissenschafterInnen im Gefolge von Ronald Inglehards Konzept der kognitiven Mobilisierung in vielen Ländern über die anstehenden Veränderungen nach.
Für die Schweiz kann man sagen: Die Unmittelbarkeit wirkte sich früher in geschlossenen Gemeinschaften vorteilhaft aus; in der Regel hat die grösste Partei der Region dafür profitiert. Zwischenzeitlich haben sich die hierfür wirksamen gesellschaftlichen Bindungen gelockert. Dafür kaum mehr etwas ohne medial vermittelte, politischen Mobilisierung, wobei Milieus durch Netzwerke, persönliche Bekanntschaft durch Medienbekanntheit der Kandidaten und lokal dominante Parteien durch Plattformen für politische Marketing ersetzt worden sind. Wer das nicht erkannt hat, klagt heute über einen generelle Bedeutungsverlust von Politik, während jene, die frühzeitig darauf reagiert haben wissen, dass vielmehr eine Transformation der politischen Partizipation stattfindet.
Zu den Konsequenzen
Das alles wirkt sich zwischenzeitlich auch auf Wahlen in der Schweiz aus: Die nationalen Wahlgänge profitieren strukturell von den Verlagerungen, die Städte auch. Die wahren Verlierer der Umlagerung sind aber nicht die Gemeinden und die kommunale Politik. Vielmehr sind es die Kantone. Denn in vielen von ihnen haben sich die lokalen Mobilisierungsfaktoren abgeschwächt, während die nationalen noch nicht greifen.
Das belegt auch die IDHEAP-Studie: Gab es 1988 noch kaum Unterschiede zwischen der nationalen und kantonalen Beteiligungshöhe, gilt dies heute nur noch für Gemeinden unter 1000 Ansässigen. In allen anderen ist die Beteiligung an kantonalen Wahlgängen zwischenzeitlich noch tiefer als an kommunalen, auf jeden Fall um Einiges geringer als an nationalen.
Oder knapp zusammengefasst in den Worten des Autors: “…, was die These einer Verlagerung des politischen Interessen und einer Nationalisierung der Politik unterstützt.”
Meinem verstorbenen Mentor in Sachen Politberichterstattung rufe ich nach: Auch ich schreibe kaum mehr über kommunale Politik, fast nur noch über nationale. Mittelbarkeit der Politik hat diese nicht einfacher, aber kontroverser gemacht. Das ist die Herausforderung der heutigen Demokratie, die sie lebendig erhält.
Claude Longchamp
Ich teile die Ansicht von Andreas Ladner, dass die steigende Mobilität und die gesunkenen Ortsverbundenheit zu einer sinkenden Wahlbeteiligung bei Gemeinde- und Kommunalwahlen beigetragen hat. Ich selbst wohne längst nicht mehr in meiner Heimatgemeinde im Kanton St. Gallen. Ich wohne und arbeite längst im Kanton Zürich. Neben der gesunkenen Ortsverbundenheit sehe ich jedoch noch einen anderen Grund. Die Globalisierung und ihre Auswirkung auf die National- und letztlich auch Kommunalpolitik. Internationale Themen wie sie die Bilaterlen mit der EU, der Asylpolitik, der UNO, der EMRK usw. mit sich gebracht haben, beschäftigen viele Menschen. Diese Themen werden jedoch vor allem auf nationaler und allenfalls noch auf kantonaler Ebene diskutiert. Auf Gemeindeebene, geht es um Bauvorhaben, Schulpflege und ehrenamtliche Jobs, die oft undankbar und aufwendig sind.
at am
Hat die “Nationalisierung” der Politik, aus ihrer Sicht, nur Nachteile? Gibt es da nicht auch Vorteile, Zukunftsweisendes?
Als Nicht-Politologe, als schlichter Schreiber, wundere ich mich wieviel quantintatives und theoriegestütztes Tam-Tam hier um seit Jahren allzu-offensichtliches betrieben wird und wie offenkundige “verschlimmbesserungen” der politischen Partizipationsmöglichkeit, den Zerfall der Öffentlichkeit (unterscheidung Oikos/Agora) und die “Entbündelung” der Kommunikation beschleunigt haben. Ich denke folgende Verwässerungen von Verantwortung haben die Sozialisationsform des “Aktivbürgers” zerstört:
1. Einführung des Frauenstimmrechts, brachte einen Rückgang der Gesammtstimmbeteiligung, weil viele Frauen es nicht wahrnahmen, und dann viele Männer (da es kein alleinstellendes Gender-Merkmal mehr war) darauf verzichteten (der Aufstieg der Testosteron-Partei SVP kann als Gegenbewegung gelesen werden)
2. Senkung des Stimmrechtsalter auf 18 Jahre. Damit kam das Stimmrecht VOR der Rekrutenschule, der Bürgersoldat wurde abgewertet, die Jungbürgerfeier verlor an Wichtigkeit, wichtiger wurde der Erwerb des Führerscheins, um eben NICHT mehr auf ein lokales Milieu angewiesen zu sein.
3. Einführung der brieflichen Stimmabgabe: Eine Kampagne konnte nicht mehr auf den Termin hin getaktet werden, viele erledigen das Abstimmungsgeschäft, bevor die Debatte fertig ist. Es entfiel das Ritual des Urnengangs, das auch viele effiziente Unteschriftensammlungen ermöglichte.
4. Die Gemeindebehörden begannen ihre Gemeinden “unternehmerisch” zu führen. Gefragt war nicht mehr der Zuzug von Mittelstand für die Feuerwehr, sondern von “guten Steuerzahlern”. Und tatsächlich wurden so viele Gemeinden zu Schlaf-Locations, die früher Hubs des politischen Lebens waren.
Ja, das macht den Unterschied aus zwischen Geschichte und Sozialwissenschaften. Jene ist auf Erzählungen aus, die Sinn stiften. Es interessieren das Besondere, besser noch: das Einmalige. Dieses in seiner Einzigartikeit zu ergründen und zu verstehen, ist die Arbeit des Historiker.
Das gilt indessen nicht für den Politikwissenschafter (um ein Beispiel zu nehmen). Zwar gibt es auch hier qualitative Methoden. Do haben die eher explorativen oder exemplifizierenden charakter. Denn es dominiert die Suche nach Gesetzmässigkeit, mindestens nach Regularitäten, am besten in der Masse.
Denn der Quantifizierung, der Abstraktion, der Verallgemeinerung, dem Gesetz gilt die Aufmerksamkeit der Sozialwissenschaften. Ganz im Gegenteil zur (traditionellen) Geschichtsschreibung.
@Giorgio
Das leben besteht nicht nur aus Verschlimmbesserungen.