Ständerat: Korrektiv wider den jeweiligen Zeitgeist.

Die Grafiken sind symbolträchtig. Der Nationalrat entwickelte sich zwischen 1980 und 2010 fast gradlinig Richtung Durchschnitt der StimmbürgerInnen. Der Ständerat machte Schlaufen, ist rechter, in Oeffnungsfragen aber etwa da, wo der Nationalrat vor der EWR-Debatte stand.

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Darstellung der Parlamentspositionen aufgrund von Schlussabstimmungen

Die heutige NZZ bringt Hintergründiges über den Ständerat. Es äussern sich Politgeograph Michael Hermann, und die Redaktoren Niklaus Nuspliger und Martin Senti, beide Politikwissenschafter. Trotz der breiten Aufmachen: eine Breitseite gegen den Ständerat ist die Doppelseite nicht. Zurecht, wie die Autoren begründen.

Nuspliger setzt sich kritisch mit dem Ständerat als Kantonsvertretung im eidgenössischen Parlament auseinander. Das ist angesichts des Gewichts, welche die Konferenz der Kantone heute hat, nicht mehr zutreffend, meint er. Vielmehr schliesst er sich Ständeratspräsident Hansheiri Inderkum an, der meinte: “Der Nationalrat bildet die gesellschaftlichen Gegensätze ab. im Ständerat stehen der Ausgleich der Interessen und die Gesamtsicht im Vordergrund.”

Hermann (sein Beitrag ist merkwürdigerweise nicht online) führt das inhaltlich aus. Die Distanz zwischen beiden Räten sei vor allem in den 80er Jahren gewachsen, urteilt er aufgrund der Schlussabstimmungen. Der Ständerat ist weniger etatistisch, wenn es um den Sozialstaat geht. Dafür ist mehr eher für mehr Staat bei Armme und Polizei. Gegenüber restriktiven Asylpolitiken tritt er reservierter auf. Dafür ist es in aussenpolitischen Fragen offner. Beide kammern seien seit den 1990er Jahren dem konservativen Trend gefolgt, der Nationalrat deutlicher, der Ständerat weniger klar. Dafür politisiere dieser gemäss liberaler Staatsdoktrin, während der Nationalrat Wohlfahrt vergleichsweise höher. Fakt sei, dass sich beide Kammern ergänzten.

Senti sieht den Ständerat als Korrektiv wider den Zeitgeist. Kam in den 1980er Jahren die Kritik an der zweiten Kammer von links, wehe der Winde heute aus der SVP-Küche. Er spekuliert zwar nur, wenn er an die kommenden Wahlen denkt. Doch glaubt er nicht wirklich an den Erfolg der Kampfansage aus den Reihen der Nationalkonservativen. Wahlrecht, Allianzbildungen angesichts neuer Konfliktlinien sprechen gegen eine grossen Erdrutsch.

Auf dieser Seite habe ich nebst interessanten (aber erklärungsbedürftigen) Grafiken, die erstmals gewisse Fakten zur Positionierung der Räte im Vergleich liefern, eines prominent erinnert bekommen: 2003 haben sich die Mehrheitsverhältnisse im Ständerat verändert. Denn FDP und SVP verloren die Möglichkeit, bei inhatlicher Uebereinstimmung eine Vorgabe zu machen. Das hat damit zu tun, dass die FDP-Vertretung rückläufig, jene der SVP aber nicht gewachsen ist. Deshalb haben Schwarz-Rot-Grün – anders als im Nationalrat – im Ständerat die Mehrheit. Schwierig genug, sie zu erreichen, aber wirksam genug, um die isolationistischen Ideen, wie sie Nationalrat nach 1992 entstanden sind, einen Riegel zu schieben.

Claude Longchamp