Reflexive Zukunftsforschung: wie sich die Schweiz weiter entwickelt

Man kann Zweifel haben, ob es möglich ist, gesellschaftliche Trends auf 20 Jahren hinaus zu erkennen. Das ist indes kein Grund, sich nicht mit Zukunftsforschung zu beschäftigen, insbesondere die reflexive Zukunftsforschung zu vernachlässigen. Ein aktueller Studienhinweis.

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Am Kippen: In der Schweiz weicht die Ego-Mania Zukunft der Clash Zukunft (Quelle: NZZ Online)

In der Schweiz setzt swissfuture den Massstab, wenn es um Zukunftsforschung geht. 2004 publizierte man den Bericht “Wertwandel in der Schweiz. 2004 – 2014 – 2024”. Zwei Megatrends unter den Determinanten des Wertwandels standen im Zentrum: die Produktion von Wohlstand und das Verhältnis von Markt und Staat. Wachstum und Marktwirtschaft definierten das eigentliche Referenzszenario, “Ego-Mania” genannt. Gar nichts damit zu tun hatte “Mind-Controll”, die BigBrother Zukunft mit einem starken und alles kontrollierenden Staat. Die beiden anderen logischen Kombinationen der Megatrends führten zu den Szenarien “Balancing” (mit Wohlstandvermehrung und starkem Staat) resp. Clash (mit Wohlstandsschrumpfung und geschwächtem Staat).

Diese Woche zogen die Schweizer Zukunftsforscher in eigener Sache eine kritische Zwischenbilanz – durch Kontrolle der Gültigkeit eigener Annahmen zwecks Optimierung der Szenarien.

In wenigen Worten zusammengefasst lauten die Befunde: “Von 2004 bis 2008 befand sich die Schweiz überwiegend auf dem Ego-Mania-Kurs, der dann durch die steigende Unsicherheit und die stockende Wirtschaft in die Richtung des Clash-Szenario umkippte.” Einschnitte waren die globale Finanz- und Wirtschaftskrise, gekoppelt mit der internationalen Unsicherheit. Die vermehrte Annahme von Initiativen dienst als untrügerisches Indiz für einen Wertewandel.

Das hat die Zukunftsforscher zu zwei Modifikationen bewogen. Ausgangspunkt ist eine Neuinterpretation der religiösen Frage. Zwar stellt man keinen generellen Trend zum Konfessionellen fest; man sieht aber eine Konjunktur an religiösen Interpretationsmustern. Diese ist nicht mehr typisch für das Big-Brother-Szenario, dafür tauchen sie beim-Clash-Szenario auf. Religiöse Rhetorik und kulturalistische Konfliktdeutung dienen vermehrt als Schablone, um im Niedergang von Wirtschaft und Politik gesellschaftliche Konflikte zu deuten. “Ob es um Gewaltbereitschaft junger Migranten, die Probleme der Integration oder die geopolitische Bedrohung geht: Vermehrt wird der Gegensatz des Islams zur abendländisch-christlichen Kultur betont.” Das hat auch zur Neudefinition des Mind-Controll Szenario geführt, das jetzt Bio-Controll heisst. Entsprechend geht es nicht mehr um eine Scientology-Gesellschaft, sondern um den biopolitischen Versuche, alle denkbaren Risiken moderner Gesellschaften durch Gesetze, Verordnungen und politische Programme frühzeitig zu minimieren. Gesundheitsprävention steht hier neu im Zentrum.


Quelle: swissfuture 2012, eigene Darstellung

Unverändert gilt: Entwicklungen der Oekonomie und der Politik bestimmen, was aus der Schweiz wird. Beides gilt es im Auge zu behalten, wenn man über Zukunft, Wertewandel und Veränderungen im Alltag spricht. Ein eindeutiges Referenzszeanrio hierzu ist momentan in der Schweiz nicht eruierbar.

Das Vorgehen hierzu macht für mich durchaus Sinn. Im popper’schen Geist der Sozialwissenschaften kann man die Szenarien von 2004 Hypothesen nennen, die plausible Zukünfte beschreiben, denn diese sind weder ganz offen, noch vollständig determiniert. Die Annahmen, die man zu den Entwicklungsspielräumen trifft, dürfen nicht Spekualtion bleibe. Sie müssen aufgrund feststellbarer Trends im 5 oder 10 Jahrtesrhythmus überprüft – und wenn nötig modifiziert – werden. Das Ganze ist nicht streng quantitativ machbar, weshalb man die Zukunftsforschung nicht zu den harten empirischen Wissenschaftszweigen zählen kann. Die kritische Ueberprüfung von Hypothesen aufgrund beobachtbarer Veränderungen in der Gegenwart führt aber zur Formulierung neuen verbesserter Szenarien. Das ist durchaus eine sinnvolle Weiterentwicklung der früheren Futurologie – als reflexive Zukunftsforschung.

Claude Longchamp