Zwischen Theorie und Praxis: das Profil der Berner Politikwissenschaft

1961 als Hilfswissenschaft für Geschichte und Soziologie begründet, blickte die Berner Politikwissenschaft gestern Freitag mit einer Fachtagung auf ihre bisherige Entwicklung zurück. Fazit: Man ist im breiten Feld zwischen Theorie und Praxis der Politik angekommen.

Klaus Armingeon, seit bald 20 Jahren in Bern Professor für vergleichende und europäische Politik, verteidigte an der Tagung die Fahne der Grundlagenforschung zwecks Theorieentwicklung in der Politikwissenschaft. Dazu zählte er beispielhaft die systematische Demokratieforschung oder Erkundungen des europäischen Wirtschafts- und Sozialstaates. Von unmittelbarem gesellschaftlichem Nutzen sei dies nicht, für die Weiterentwicklung der Disziplin erweise sich diese Basisarbeit jedoch als entscheidend. Denn sie biete den Rahmen, in dem Untersuchungsergebnisse, die in einem bestimmten Kontext oder Zeitraum entstehen, mit Gewinn eingeordnet werden können. Deshalb plädierte er in seinem Referat für “die zwei Seiten der Berner Politikwissenschaft” – wohlwissend, dass er die zweite repräsentiert.

An der 50 Jahr-Feier der Berner Instituts für Politikwissenschaft markierte Heidi Z’graggen, vormalige Parlamentsforscherin und zwischenzeitlich Urner Regierungsrätin die erste. Zwar ist die Professionalisierung der Parlamente nicht mehr ihr Thema. Dafür fragte sich die zur Politikerin mutierte Politologin in ihrem Beitrag, was die Politik als Wissenschaft der Politik als Kunst zu bieten habe. Sicher, die Wahlforschung werde in Parteivorständen genauestens studiert. Oder die Expertise der Politikwissenschaft bei Gemeindefusionen helfe den Behörden in verfahrenen Situationen bei der Sache zu bleiben. Politik als Kunst finde aber nicht im Labor statt, sondern vor Ort, zum Beispiel in Andermatt, wo man grosse Pläne für den Aufbau eines neuen Ressorts habe, und wo Mut, Geschick und Ausdauer nötig seien, um zum Ziel zu kommen. Mit Abrahman Lincoln meinte sie, Staatskunst sei denn nicht weniger die kluge Anwendung persönlicher Niedertrachtfür das Allgemeinwohl.

Wolf Linder, vor langer Zeit selber Parlamentarier, dann Politikprofessor, positionierte sich zwischen den beiden Polen. Das Praktische an der Politikwissenschaft ist ihm in den fast 25 Jahren als Institutsdirektor in Bern nicht abhanden gekommen. Auch wenn er nicht bei der Tagespolitik stehen geblieben ist. In der Rolle eines aufmerksamen Fussballreportes berichtete er über die Umstrittenheit der Volksrechte, kommentierte abgesagte Spiele und begangene Fouls der letzten 10 Jahre. Grundsätzlich wurde er, als es um den Geltungsbereich des internationalen Rechts und das Staatsvertragsreferendum ging. Er befürwortete die Freiheit zu Volksentscheidungen im Innern, denn die Volksrechte seien die institutionalisierte Möglichkeit der Opposition, auf die Arbeit der Regierung Einfluss zu nehmen. In den Beziehungen zu anderen Staaten hemme ein Mehr an direkter Demokratie jedoch den Handlungsspielraum von Regierungen, der angesichts anderer Konfliktregeln gerade zur Wahrung von Eigeninteressen unerlässlich bleibe.

“Schweizer Politik im Umbruch” lautete das Generalthema der Geburtstagsfeier. Rektor Urs Würgler entging nicht, dass die Konkordanz auf Bundesebene und die Politikwissenschaft in Bern fast genau gleich alt seien. Doch: Während die Politologie auftrebt, befindet sich die politische Zusammenarbeit in der Krise. Mit einem Augenzwinkern meinte er, je mehr man von Konkordanz spreche, desto weniger funktioniere sie. Die Arbeit des IPWs freue ihn, denn es sei ein Ziel der Uni, internationale Ausrichtung mit lokalem Wirken zu verbinden. Von seinem Bündnertum inspiriert, untermalte Flurin Caviezel die Veranstaltung mit geistreichen Zwischenrufen als Komädiant und urchigen Klängen als Musiker. So kam nebst der gedachten Politik auf die gefühlte nicht zu kurz.

Zu Beginn der Tagung machte Adrian Vatter, seit 2009 neuer Institutsdirektor, klar, dass im Institut für Politikwissenschaft ein Generation- und Geschlechterwandel stattgefunden habe. Von den fünf Professuren wurden in den letzten zwei Jahre vier neu besetzt. Jetzt führen drei Männern und zwei Frauen das Instituts; im Mittelbau überwiegen die Politologinnen bereits. Ihre Arbeit neu in Angriff nehmen werden im Herbst Markus Freitag von Konstanz kommend, Isabel Stadelmann-Steffen, bis jetzt Oberassistentin in Bern, und Karin Ingold, bislang Umweltforscherin an der ETH Zürich. Politikwissenschaft wird unverändert im Rahmen des sozialwissenschaftlichen Bachelorstudium angeboten werden, aber auch zwei Masterlehrgänge umfassen. Weltweit einmalig ist es der Studiengang für schweizerische und vergleichende Politik, mit dem man fortgeschrittene Studierende für Wissenschaft und Beruf bilden will.

Elite und Volk, Wahlen und Abstimmungen, Parteien und Verbände, das alles waren grosse Themen der Berner Politikwissenschaft in ihrer ersten Generation. Die zweite hat sich vermehrt mit Politik als Entscheidung, deren Genese und Vollzug beschäftigt, um, nicht zuletzt im internationalen Vergleich, zu fragen, unter welchen institutionellen Bedingungen welche Leistungen erbracht werden. Die dritte ist dabei ihr Programm zu entwickeln, mit modernisierten Dienstleistungen und zahlreichen neuen Forschungsprojekten, die darauf warten, in eine neue Synthese zum politischen System der Schweiz zu münden.

Vor überzeichneter Selbstkritik warnte am Schluss der Tagung Manfred G. Schmidt, einer der angesehensten Politologen Deutschland. Er lobte nicht nur den Berner Jubilar. Ein Kränzchen aus Heidelberg gab es auch für die Schweiz. Denn das Land habe es fertig gebracht, eine glückliche Mischung zwischen ausgebauter Demokratie und anspruchsvollen Staatsleitungen zu finden. Nirgends seien die Volksrechte soweit entwickelt wie in der Schweiz, ohne in die Fallen der direkten Demokratie getreten zu sein. Der Wohlfahrtsstaat wiederum sei ausgebauter als in den angelsächsischen Ländern, begrenzter als in Nordeuropa, dafür ausgesprochen leistungsfähig. Die Kombination von beidem könne man nach Lehrbuch gar nicht finden, werde aber in der Schweiz mit Erfolg praktiziert.

Das sich selber und anderen klar zu machen, gehört meinen wichtigsten Erkenntnissen der gut besuchten Tagung im Berner Von Roll Areal, das bald zur neuen Wirkungsstätte der Berner Politikwissenschaft werden wird.

Claude Longchamp

Ein Teil der Referate ist in gekürzter Form im (schön gemachten) aktuellen UniPress abgedruckt.