Zwischen Langeweile und Extremen: die Bundestagswahl 2009 unter der politikwissenschaftlichen Lupe

Die akademischen WahlforscherInnen Deutschlands haben ihren ersten zusammenfassenden Bericht zu den Bundestagswahlen 2009 vorgelegt. Trotz historischen Veränderungen in den Parteistärken bleiben Analysemodell treu, das letztlich die Konstanz in individuellen Wahlentscheidungen betont.

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Am 27. September 2009 fanden in Deutschland die letzten Bundestagswahlen statt. Die Unionsparteien CDU/CSU und die FDP erreichten die notwendige Mehrheit für eine schwarz-gelbe Koalition. Während die Oppositionsparteien FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen deutlich Stimmen hinzu gewannen und die besten Ergebnisse ihrer jeweiligen Parteigeschichte erzielten, fielen die Parteien der regierenden grossen Koalition in der Wählergunst auf ein historisches Tief. Auch die Wahlbeteiligung war mit 70 Prozent die niedrigste seit Bestehen der Bundesrepublik.

Die neu organisierten akademischen Wahlforscher Deutschlands legen nach zahlreichen Vorarbeiten ihren ersten abgerundeten Bericht zum Wahlergebnis vor. Gegliedert ist der vorbildlich knapp gehaltene und gut lesbar Band in fünf Hauptteile: die Einordnung der Wahl ins wirtschaftliche Umfeld, ein knappe Wahlkampfmonografie, ein Kapitel über die Wahlergebnisse, den Hauptteil über die Hintergründe und den (misslungenen) Start in die “Wunschehe”.

Trotz den massiven Veränderungen in den Parteistärken mögen die Herausgeber Hans Rattinger, Sigrid Rossteuscher, Rüdiger Schmitt-Beck und Bernhard Wessels nicht von einem flexibel gewordenen Elektorat sprechen. Vielmehr sind sie überzeugt, dass nach vier Jahren der grossen Koalition strategische Entscheidungen für eine bestimmte Parteienallianz massgeblich waren. Profitiert hat davon namentlich die FDP.

Mit der grossen Wahlstudie lassen sich 60 Prozent der individuellen Wahlentscheidung für die Liberalen nachvollziehen: Dabei waren erstens die langfristigen Bindungen an die Partei, zweitens das Profil des Kanzlerkandidaten Guido Westerwelle, drittens die Position der FDP in Steuerfragen und viertens die Leistung der Partei in den letzten Jahren der Opposition entscheidend gewesen. Die Wirtschaftslage dagegen beeinflusste weder die Entscheidung für die FDP noch für eine andere Partei nach nachhaltig.

Die Modellierung aller Wahlentscheidungen aufgrund der Gesamtheit zur Verfügung stehenden Indikatoren verdeutlicht, dass die Bilanz aus vier Jahren grosser Koalition entscheidend war. Profitiert haben davon Die Linke und die CDU/CSU am meisten. Vergleichsweise geschadet hat dies namentlich der SPD. Erheblich waren zudem die Einschätzungen der SpitzenkandidatInnen. Sachfragen, zeigen die Analysen, waren dagegen insgesamt nicht so entscheidend. Am wenigsten gilt dies noch für die Kernenergiefrage, die den späteren Koalitionären half, aber auch den Grünen.

Erheblich relativiert wird im Bericht die medial hochgradig inszenierten TV-Duells. Bei der Fernsehdebatte habe man auf Unentschieden gespielt, im Wissen darum, dass ein Sieg kaum möglich ist, eine Niederlage aber vermieden werden müsse, ist die nüchterne Bilanz. Wenn die CDU/CSU schliesslich am meisten Wähler behielten, sei dies eine Folge ihrer langfristigen Bindungsarbeit gewesen, die über den Wahlkampf hinaus, der Gefolgschaft eine politische Heimat anbietet.

Für Fachleute wird klar: Die deutsche Wahlforschung bleibt am meisten vom Michigan-Modell beeinflusst. Polit-ökonomischen Analyseanstzen bleibt man auf Distanz. Die Thesen der sich entwickelnden Mediengesellschaft werden gar nicht rezipiert.

Am neuen Band überrascht, dass man im Voraus die Relevanz neuer Verfahren wie den Wahlkampfanalysen, verbunden mit einer tagesaktuellen, repräsentativen Stichprobe zur Messung von Ereigniseffekten propagierte, jetzt aber kaum aufzeigt.

Entweder folgt das im erwarteten, wissenschaftlichen Schlussbericht, oder aber, der finanzielle und organisatorische Grossaufwand hierfür hat sich angesichts des Wahlkampfes nicht gelohnt.

Nicht zufällig trägt der Band zu den Bundestagswahlen 2009 den Titel “Zwischen Langeweile und Extremen”.

Claude Longchamp