Ist direkte Demokratie ein Exportprodukt der Schweiz?

Regelmässig werden PolitolgInnen eingeladen, über die direkte Demokratie der Schweiz im Ausland oder vor ausländischen PolitikerInnen zu referieren. Das Interesse ist steigend, namentlich in Deutschland, wo “Stuttgart 21” das Nachdenken über Volksentscheidungen befördert hat. Meine sieben Statements in dieser Sache im Ueberblick.

SWISS-ELECTION/

Eines ist klar: Nirgends auf der Welt wird so viel abgestimmt wie in der Schweiz. Immer deutlicher wird aber auch, dass das Ausland aufholt. Heute gibt es in einem Durchschnittsjahr bereits mehr Volksentscheidungen im Ausland als in der Schweiz. Und so stellt sich die Frage: Ist direkte Demokratie d a s politischen Exportprodukt aus der Schweiz?

In meinen Ausführungen hierzu merke ich zunehmend, dass politische System nicht einfach übertragen werden können. Auch wenn wir PolitologInnen sie abstrakt-theoretisch nachzeichnen, sie sind gewachsen, aus den gesellschaftlichen Kräften, den zurückliegenden Konflikten und den Lösungen, die sich exemplarisch daraus ergeben haben. Strukturen des Staates, ja selber der Entscheidungsprozesse und der Politikprogramme haben ihre Entsprechungen in den Kulturen.

GegnerInnen der direkten Demokratie gebrauchen diesen Hinweis gerne, um die Nicht-Uebertragbarkeit politischer Institutionen zu betonen. Entweder folgt man dem klassisch parlamentarischen oder bekannten präsidentiellen System, oder aber man entscheidet sich für das direktdemokratische.

Das Argument greift meines Erachtens zu kurz. Denn auch die Schweiz war nicht von Beginn weg ein direktdemokratisches System, sondern hat sich vom parlamentarischen hierzu gewandelt. Aus diesem Prozess des Wandels kann man einiges aus den Schweizer Erfahrungen lernen, ohne fixfertige Antworten zu kriegen.

Erstens, Experimente mit Volksentscheidungen in parlamentarischen Systemen sind in kleinen politischen Einheiten einfacher als in grossen. Daraus folgt, dass direkte Demokratie lokal und in Gliedstaaten eingeführt und erprobt werden sollte, bevor es auf nationalstaatlicher oder gar supranationaler Ebene zur Anwendung kommt.

Zweitens, Volksentscheidungen sind nicht da, um Probleme zu lösen, bei denen der parlamentarische Prozess versagt hat. Sie sind da, um BürgerInnen-Partizipation in der Sache zu fördern. Das ist der Kern einer vorausschauenden Institutionenpolitik, die nicht zur Reparaturwerkstätte verkommen darf. Sonst misst man direkte Demokratie an übertriebenen Einzelerwartungen.

Drittens, namentliche Parteien müssen lernen, mit direkter Demokratie umzugehen. Denn die ausschliessende Macht der Fraktionen wird mit Volksentscheidungen klar relativiert, während der Umgang der Parteien mit BürgerInnen-Anliegen auch ausserhalb von Wahlen gestärkt wird. Das muss parteiintern in eine Balance gebracht werden, was den Oppositionsparteien einfacher fällt als Regierungsparteien.

Viertens, auch Medien müssen für die direkte Demokratie gewonnen werden. Denn ohne ihre anspöruchsvolle Informationsarbeit sind BürgerInnen-Entscheidungen nicht möglich. Medien können davon auch profitieren, enn sie bei Volksabstimmungen in einen direkten Dialog mit ihrer Kundschaft treten. Diese empfängt nicht nur, sondern auch sendet auch, spätestens mit dem Entscheid selber.

Fünftens, in einem grösseren Zusammenhang geklärt werden muss, welche Instrumente der direkten Demokratie unter gegebenen Bedingungen Sinn machen. Der Referendumstyp ist ein Bremse, die je nach Ausgestaltung mehr oder minder stark sein kann, aber immer als Korrektiv zum Parlamentsentscheid wirkt. Der Initiativtyp ist ein Gaspedal, mit dem die Bürgerschaft Ideen im Entscheidungsprozess initiieren oder auch einbringen kann. Eine Kombination von beidem erhöht die Akzeptanz in verschiedenen politischen Lagern.

Sechstens, festgelegt werden müssen die Spielregeln: Ob Bürgerbewegungen, die Volksentscheidungen verlangen, ideell, finanziell und infrastrukturell unterstützt werden sollen oder nicht, muss klar geregelt sein. Denn damit definiert man auch, ob Parteien weitgehend alleine, oder auch Interessenverbände und Bewegungen als TrägerInnen von Volksrechten werden sollen.

Und siebtens, direkte Demokratie kann, einmal eingeführt, kaum mehr zurückgenommen werden. Sie wird zu einem dauerhaften Element in der Entscheidfindung, und sie verändert diese auch – denn keine Regierung, kein Parlament verliert gerne in Volksabstimmungen, weshalb sie mit Volksrechten “responsiver”, aufmerksamer werden, für das was ausserhalb von Parlamenten geschieht.

Oder anders gesagt: Volksrechte kann man nicht einfach verpflanzen. Ihre Instrumente sind keine Exportprodukte. Sie sind aber eine Expertidee. Man kann die Bestrebungen dazu aber befördern, auch mit den guten und weniger guten Erfahrungen, welche die Schweiz hierzu gemacht hat – um Fehler zu vermeiden und schneller zu brauchbaren Lösungen zu kommen.

Claude Longchamp