Wahlversprechen dieser und jener Art

Dieser Artikel dürfte “rehcolb”, einer meiner treuen Leser und Kommentatoren, ansprechen: Denn er beschäftigt sich mit einer Untersuchung zu Wahlversprechen und -verhalten unserer NationalrätInnen. Ich hoffe, er regt auch zum Nachdenken an. Denn es ist alles ist komplizierter, als man auf Anhieb denkt.

Studie_Wahlversprechen_SP_Sieger

Erinnern Sie sich noch an Christian Lüscher, dem FDP-Kandidaten bei den Bundesratswahlen 2009? Die Medien eroberte der liberale Sunnyboy im Sturmlauf: souveräner Auftritt, galantes Aeusseres und gewinnender Humor empfahlen ihn schnell einmal für das höchste Amt im Bundesstaat.

“Weit gefehlt!”, kommt die junge Berner Politikwissenschafterin Lisa Schädel in ihrem Bericht “Ist vor der Wahl auch nach der Wahl?” zum Schluss. Denn sie zählte nach, wer was versprach, und wer wie stimmte. Und bei keinem/keiner anderem/r PolitikerIn unter der Bundeskuppel fand so viel Positions-Inkongruenz wie bei Lüscher.

2003 resp. 2007 wurden die KandidatInnen für den Nationalrat gebeten, vor der Wahl den Fragebogen von smartvote auszufüllen und sich damit in aktuellen Streitfrage zu positionieren. In 34 Fällen stimmten die Gewählten danach über das ab, was gefragt wurde, was den Vergleich vor und nach der Wahl erlaubt.

Ergebnis: 86 Prozent der Entscheidungen stimmen überein!

Allerdings: Bei 14 Prozent der Getesteten gibt es eine vollständige Uebereinstimmung, bei einem Zehntel weichen mindestens 3 von 10 Entscheidungen ab. ParlamentarierInen ist eben nicht ParlamentarierIn!

Hat das mit einem schlechten Charakter einiger PolitikerInnen zu tun? Ausschliessen kann man das nicht. Die Untersuchung verweist auf tieferliegende Ursachen für Positionsinkongruenz:

Erstens: Probleme der Neulinge.
Zweitens: Problem Fraktionsdruck
Drittens: Problem Zentrumsposition.

Wer neu ist, muss sich einarbeiten, was zur Meinungsbildung beträgt und auch andere Einsichten aufkommen lässt. Wer mit seinen Positionen mit der Fraktionsmehrheit übereinstimmt, hat es einfacher. Wer nicht, kommt zunehmend unter Druck. Und wer im Zentrum politisiert, muss sich heute bewegen, um zu gewinnen!

So erstaunt es nicht, dass die SP-ParlamentarierInnen zu 94 Prozent positionskongruent stimmen, die Grünen zu 92 Prozent – beides überdurchschnittlicher Werte. Positiv gemüntzt heisst das, die linken ParlamentarierInnen halten ihre individuellen Wahlversprechen. Negativ ausgedrückt, stimmt das mit der höchsten Verliererrate im Nationalrat überein. Bei der SVP bewegt sich beides im Mittel. Ihren smartvote-Positionen am untreuesten sind die CVP- (74% Uebereinstimmung) und FDP-NationalrätInnen (81%). Dafür kommt es auf sie am meisten an, was im Parlament durchgeht – und was nicht.

Die Ergebnisse sind typisch für den Charakter – nicht der PolitikerInnen, jedoch der heutigen politischen Situation. Ohne Polarisierung repräsentierten die 4 Regierungsparteien mindestens drei Viertel der VolksvertreterInnen. Da mochte es individuelle Abweichungen nicht leiden. Heute ist alles anders: Sammlungen der Regierungspartner ohne SVP oder bürgerliche Schulterschlüsse sind zur Regel geworden, und sie sind auf geschlossene Fraktionen angewiesen. Wer an den Polen politisiert und im entscheidenden Moment ausscheren kann, hat es da einfacher als PolitikerInnen, die mehrheitsfähige Positionen suchen.

Denn auch das ist eine Art Wahlversprechen – selbst wenn es schwieriger ist, das klar zu machen!

Claude Longchamp