Der Japan-Effekt: eine Auslegeordnung

Die Wahlforschung hat einen neuen Term, den Japan-Effekt. Damit ist gemeint, dass das Erdbeben im Pazifik, der Tsunami an Japans Ostküste und insbesondere der Reaktorunfall in Fukushima Einfluss haben auf die Wahlen in andern Ländern wie der Schweiz haben.

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Quelle: Tages-Anzeiger

Das Tages-Anzeiger bringt den Japan-Effekt im Zusammenhang mit einer kleinen Serie von repräsentativen WählerInnen-Befragungen durch Isopublic zu den Zürcher Kantonswahlen auf. Die favorisierte vor knapp einem Monat die SVP, nicht zuletzt wegen der Attacke auf Wahlkampfleiter Hans Fehr an der Albisgüetli-Veranstaltung und der darauf folgenden medialen Debatte über linksextreme Gewalt. Die aktuelle Erhebung spricht für Vorteile der GLP und der SP. Bei den Regierungsratswahlen zeigen sich Wahlchancen für die grüne Kandidatur, Probleme für einen Bisherigen der SVP.

Löblich ist der Kommentar von Edgar Schuler in der heutigen Ausgabe des Zürcher Blattes (leider nicht auf dem www erhältlich). Denn er nimmt zwei Gedanken auf, die Reaktionsweisen von Politikern auf Ereignisse, und die Bedingheit von Umfragen und Wahlen von solchen Momenten. Hier interessiert nur letzteres. Die Rede ist dabei von “October Surprise”. Gemeint ist damit, dass überraschende Ereignisse im Monat vor den Wahlen, selbst die Entscheidungen über den US-Präsidenten anfangs November beeinflussen können. Erinnert sei an das Ausbrechen der Finanzmarktkrise, die den Republikanern schadete, den Demokraten nützte und Obamas Siegeszug mitbegründete.

Nun sind solche Feststellungen für Oeffentlichkeit vielleicht neu, für die Fachwelt nicht. Seit Langem differenziert diese zwischen lang- und kurzfristigen Einflüssen auf Wahlresultate. Langfristig wirken sich beispielsweise der soziale Wandel aus, ebenso wie die Neupositionierung von Parteien oder Aenderungen im Wahlrecht. Kurzfristig von Belang ist die Entwicklung von modernen Wahlkämpfen. Lange ging man dabei eher von einer Verstärkung der Trends über den Moment hinaus aus, während sie heute ein Spektakel der Mediengesellschaft sind. Für die ist typisch, dass sich Medien und Parteien vermengt an die Wählerschaft richten, dafür Botschaften aus der Situation heraus so platzieren, dass sie im Idealfall ein Meinungsklima erzeugen oder von einem solchen profitieren.

Mit gutem Grund kann man solche Einflüsse aus den Ereignissen in Japan theoretisch annehmen. Sie haben mit der Focussierung der Aufmerksamkeit auf den möglichen Super-GAU die Weltgesellschaft aktualisiert. Die haben vielerorts politische Reaktionen ausgelöst, namentlich in Deutschland und der Schweiz die Ausstiegs- und Moratoriums-Diskussion neu entfacht.

Empirisch gesehen haben wir dagegen kaum Erfahrungen mit Stärke und Dauer solcher Effekte. Der Unfall in Tschernobyl prägte das öffentliche Klima während Monaten, liess namentlich die Grünen bei den Wahlen in Zürich und der Schweiz erstarken, und zeigte in der Kernenergiefrage über Jahre hinaus Folgen für Einstellungen, teilweise auch für das Verhalten. Doch ist das nur ein Beispiel, das schwer zu verallgemeinern ist. Allenfalls sogar mit veränderter Komplexität zu rechnen, weil die BürgerInnen nach Tschernobyl keine Erfahrung hatten, wie solche Prozesse ausgehen, seit dem Reaktorunfall in der Ukraine indessen schon.

Erste Anhaltspunkte für die aktuelle Interpretation nur die Wahlen angesichts des Japan-Effektes: zum Beispiel in Sachsen-Anhalt, wo die Beteiligung stieg und namentlich die Grünen zulegten. An diesem Wochenende kommen sowohl die Entscheidungen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz sowie auch die in Baselland hinzu. Bis dann ist mit Sicherheit Vorsicht angezeigt.

Für mich gilt: Wahlprognosen werden unsicherer, strukturell wegen der Meinungsbildung in der Mediengesellschaft, aktuell wegen den Ereignissen in Japan. Für alle Beteiligten ist in solchen Situation nur eines hilfreich: das induktive Vorgehen durch genaue Beobachtung und Analyse der Phänomene, die sich wiederholen, ist brauchbar, um zu lernen, wie sich die Entscheidfindung bei Wahlen verändern und wie sie damit prognostiziert werden können.

Claude Longchamp