Wie man die Mühleberg II-Volksentscheidung politologisch analysieren kann

“Konfliktlinien” ist das Zauberwort der politologischen Entscheidungsanalyse. Sind sie wiederkehrend, spricht man von Konfliktmuster. Dank diesen kann man vermutete Fallbeispiele aus einer übergeordneten Warte untersuchen.

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Globale und lokale Probleme vs. Bernische Beständigkeit: Sujets aus dem Abstimmungskampf zur Fortführung des Kernkraftwerks Mühleberg.

Bei der Analyse von Konfliktmustern unterscheidet man strukturelle und dynamische Vorgehenswesien. Jene vergleicht beispielsweise die Eigenschaften unterschiedlich stimmender Gemeinden, um zu Erklärungen der Entscheidung vorzustossen; diese fragt, wie sich lang-, mittel- und kurzfristige Determinanten auf eine Wahl oder auch eine Volksabstimmung auswirken.

Langfristige Faktoren: Wertepolarisierungen Der Kernenergie-Konflikt entstand mit den Protesten nach der Unfällen mit Kernkraftwerken in Harrisbourgh (USA) und Tschernobyl (UdSSR). Diese politisierten den postmaterialistischen Wertwandel entlang von Sicherheitsfragen und Umweltschutz heftig, transformierten namentlich die Linke, seither auch aus grünen Parteien bestehend. Von dieser Polarisierung stark beeinflusst waren die eidgenössischen Volksabstimmungen von 1990, die zum 10jährigen Baustopp, nicht aber zum Ausstieg aus der Kernenergie führten. 2003, bei den bisher letzten grossen Volksabstimmungen in der Schweiz, war fand dieser Konflikt eine umgekehrt Antwort. Die Forderungen der KernenergiekritikerInnen wurde mehrheitlich abgelehnt, das Moratorium aufgehoben. Die alten Frontstellungen waren in den mittleren und älteren Generationen weitgehend geblieben, in der jüngeren nicht mehr so aktuell.

Mittelfristige Faktoren: neue Energiepolitik als Wertesynthesen Verlagert hat sich in jüngerer Zeit vor allem der politische Diskurs. Die Kernenergiebefürworter argumentieren teilweise mit der CO2-Problematik; Teile ihrer Widersacher befürworten ökonomische Anreize für neue Energieformen. Im Entstehen begriffen ist eine neue Energiepolitik, welche auf keinen Energieträger verzichten will, ihre Endlichkeit als Problem anerkennt. Sie finden Anerkennung bei jüngeren Menschen, politisch vor allem bei Mitte-Parteien. In der Schweiz noch wenig verarbeitet ist, dass die Energieproduktion stark internationalisiert ist.

Kurzfristige Faktoren: Die öffentliche Kernenergiedebattepolitik der Schweiz wird gegenwärtig durch Energieförderprogramme, Endlager-Entscheidungen, die Erneuerung von Kernkraftwerken und die Suche nach neuen Energie-Quellen und -Standorten geprägt. Dies artikuliert variable Interessen, die politisch nicht einheitlich verarbeitet sind. So kommt es nebst klassischen Polarisierungen zwischen den Parteien immer wieder zu inneren Konflikten und vorübergehenden Allianzen. Medien interessieren sich für Energiefragen nicht vorrangig, behandeln aber Konflikt ausführlich. Das gilt namentlich für Volksabstimmungen, in denen neue und alte Bestandteile des Konflikts aktiviert werden.

Die massgebliche Entscheidung auf nationaler Ebene findet voraussichtlich 2013 statt. Sie wird gegenwärtig durch eine Reihe von lokalen und regionalen Entscheidungen vorbereitet, zu denen die Mühleberg II-Abstimmung gehört. Ihr Ausgang kann als Mix der Faktoren bestimmt werden, die hier skizziert wurden: zuerst als Folge der neuen Fragestellungen, dann der neuen Trends in der Kernenergiepolitik und schliesslich durch die hintergründigen Polaritäten, die mit der Herausbildung der Konfliktlinie entstanden sind.

Wie man mit diesen drei Thesen den Ausgang der aktuellen Volksabstimmung über die Fortführung der Kernkraftwerken ist Mühleberg analysieren kann, habe ich in einem Interview mit dem “Bund” versucht, das heute erschienen ist. Hier das Gespräch.

Claude Longchamp