Alles wird gut. Alles ist Wut. Alles braucht Mut.

Nichts ist älter als die Zeitung von gestern. Stimmt nicht, finde ich heute, als ich über das Interview von Daniel Cohn-Bendit im gestrigen Bund nachdenke.

topelement
Daniel Cohn-Bendit, 65, wurde 1968 als Wortführer der Pariser Studenten bekannt. Seit 1994 verritt er abwechslungsweise die deutschen und französischen Grünen im EU-Parlament, gegenwärtig als Co-Vorsitzender der Fraktion.

Die Lage sei prekär, diktiert er den Schweizer Journalisten in Strassburg ins Notizbuch. In der Gegenwart sei vieles durcheinander geraten. Dennoch höre er nicht auf, an die Vernunft in der Politik zu glauben. Hätte er das nicht mehr, würde er sich lieber auf eine Insel zurückziehen und einen Joint rauchen.

Sichtbarer Ausdruck der Veränderungen sind verschiedenartige populistische Strömungen. Zu diesen zählt Cohn-Bendit die Lega Lombarda. Deren Bewusstsein sei: “Ich zuerst – ich allein.” Er macht aber auch vor den eigenen Grünen nicht Halt: “Mein Bauch ist mir und meine Angst ist alles”, sei zum eigentlichen Slogan geworden.

Ein wichtiger Hintergrund sei die Migrationspolitik. 40 Jahre lange habe man keine betrieben, auch keine Integrationspolitik, spitzt Cohn-Bendit zu. Die Rechte habe nicht gewollt, und die Linke alleine nicht gekonnt. Jetzt bezahle man für die Angst der BürgerInnen.

Die Finanzkrise übersteige letztlich die Vorstellungskraft der Menschen, analysiert der Alt-Linke. 10 Prozent Rendite jedes Jahr habe Konsequenzen. Angesichts der globalen Wirtschaftskrise würden sich Christ- und Sozialdemokraten nur noch in kurzfristige Massnahmen wie Bankenschirmen überbieten. Das habe das Schlimmste vermieden, aber die Renationalisierung des Denkens gefördert.

Das Gebot der Stunde sei, für Europa einzustehen, etwa mit einer europäischen Anleihe, um gemeinsame Projekte wie die Energiezukunft voranzustreben. Wenn viele Politiker das nicht mehr wollten, seien Medien wie die britischen Schuld, weil sie die Angst der BürgerInnen instrumentalisierten, um vor Wahlen Politik zu machen, hinter denen eigene Interessen stünden.

Auch die Schweiz schont Cohn-Bendit nicht. Sie müsse lernen, einen verfassungsmässigen Rahmen zu respektieren, denn sie nicht alleine bestimme. Tue sie das nicht, werde sie in Probleme geraten. Denn in dieser Frage gäbe es kein Abrücken von Verfassungsgesellschaften. Denn nur diese würden das Volk vor sich selber schützen.

Und an die eigene Klasse gerichtet, sagt der Politiker: Die Wut der BürgerInnen in Europa sei verständlich. Man müsse ihr jedoch mit Vernunft begegnen. Und mit Zeit. Die klassische Parteiarbeit nähme pro Tag 27 Stunden in Anspruch. Deshalb fehle den PolitikerInnen der Freiraum, sich selber um die Gesellschaft zu kümmern.

Ich ertappe mich heute , wie ich Vieles von dem, was ich gestern Morgen las, auch denke. Es tritt das Ganze, auch wenn die Details flapsig ausgeführt sind. Nicht nur in der EU, auch in der Schweiz.

Das sind die Thesen:
Erstens, die Finanzmarktkrise und ihre Folgen überfordern die BürgerInnen.
Zweitens, die Politik wird getrieben, ist nicht treibende.
Drittens, Medien greifen direkt in die Politik ein.
Viertens, es gibt einen neuen Nationalismus.
Fünftens, jeder rettet, was er kann.

“Alles wird gut!”, versprechen die Optimisten. “Alles wird zu Wut”, kontern die Pessimisten. Alles braucht Mut, füge ich als Realist bei.

Claude Longchamp