Was tun PolitikwissenschafterInnen in der Praxis?

Ich selber bezeichne mich als Politikwissenschafter mit eigener Praxis. Was das ist, habe ich vor einiger Zeit auf Einladung der Studentenschaft der Universität Bern erläutert.

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Nur ein von vielen Tätigkeiten von PolitikwissenschafterInnen in der Praxis: Politische Analysen für Massenmedien

Meine Thesen
Hier meine zentralen Thesen und Schlussfolgerungen, die ich den kommenden AbsolventInnen des Faches präsentiert habe:

These 1: Nichts wird in Zukunft so sein, wie es bisher war.
Meine Erfahrungen aus 20 Jahren Berufstätigkeit als Forscher lehrt mich nämlich, von einer Transformation der Rollenbilder auszugehen, die spätestens alle drei Jahre über uns kommt. Wer in die angewandte Forschung einsteigen will muss fit sein, und wer sich darin länger aufhalten will, muss fit bleiben. Dies heisst, sensibel für Neues sein, kreativ mit Herausforderung umzugehen, Risikobereitschaft und Innovationsgeist zu zeigen und vor allem nicht zu vergessen, dass die Produktion neuen Wissens eine stetige Lernbereitschaft erfordert.

These 2: Für praktisch tätige PolitologInnen braucht es eine besondere Balance für Engagement und Distanz.
Ein Biologe, der nie in den Wald geht, betrachtet seinen Gegenstand nur gefiltert durch die Reagenzgläser seines Labors. Und StudentInnen der Politikwissenschaft, die nicht in einer politischen Veranstaltung für oder gegen etwas gekämpft zu haben, riskieren, geblendet durch gescheite Bücher aus den USA über hiesige Politik zu sprechen, ohne etwas zu verstehen. Allerdings sind politische AktivistInnen in der politikwissenschaftlichen Praxis nicht unproblematisch, müssen sie doch meist noch zuerst Lernen, was es heisst, “Distanz” zu einem Thema zu haben.

These 3: Wer als Politikwissenschafter/Politikwissenschafterin in der Praxis steht, lebt nicht ohne gelegentliche Anfeindungen.
Gerade die Demoskopie wird rasch auch als Demagogie verschrieben, werden praktische Politologen mit parteilichen Ideologen gleichgesetzt, und kommunikative Wissenschafter als “Medien-Politologen” tituliert. Nicht selten sind es dabei die KollegInnen von der Universitätswissenschaft, die einem die Leviten lesen. Geschieht dies mit der Absicht, gemeinsam etwas besser zu entwickeln, kann man auch nichts dagegen haben. Manchmal überwiegt aber auch der Neid über den Erfolg auf Prestigemärkten oder schlicht der Konkurrenzdruck bei der Akquisition von Projekten, was kein Anlass sein sollte. Dem Ganzen schädlich sind angestrengte Angriffe via Medien.

These 4: Politikwissenschaft in der Praxis ist ein Teil der aufkommenden Wissensgesellschaft.
Überblickt man die Tätigkeiten von praxisorientierten PolitologInnen, wird ersichtlich, in welchem Masse sie ein Teil der politischen Steuerung geworden sind. Sie beschreiben Politik nicht nur, sie beschleunigen und bremsen sie gelegentlich, indem sie spezifisches Wissen produzieren, das in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft genutzt werden kann resp. auch genutzt wird. Das macht letztlich den übergeordneten Reiz der Tätigkeit aus, als Wissenschafter in der Praxis zu sein. Der Dynamik der noch sehr jungen Wissensgesellschaft entspricht es, dass man gelegentlich auch nicht weiss, wie es weiter geht. Das hält aber Erfordernisse wach, die für die Forschung unabdingbar sind: Unermüdliches Fragen, kreative Suche nach Lösungen. Innovationsgeist, Originalität und nicht zuletzt die Freude, stets eine Nasenlänge voraus zu sein.

So, wer sich mehr dafür interessiert, schlage hier das ganze Referat nach!

Claude Longchamp