Kulturen des Misstrauens

Daniel Binswanger, einer der prominensten Intellektuellen unter den Schweizer JournalistInnen, analysiert im “Magazin” dieses Wochenendes die Entwicklungen der Demokratien im In- und Ausland. Ausgangspunkt ist die Kultur des Misstrauens, begründet durch Wirtschaftslage und Institutionenkrise. In meinen Kursen zu solchen Themen taucht regelmässig ein weiteres Thema auf, das Binswanger beredet umgeht.

binswanger

“Empörung” ist das Stichwort, mit dem der Essay von Daniel Binswanger beginnt. Dafür gibt es gute Gründe: die Wirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit, die Angst vor Verarmung. Doch das alleine reiche nicht, um die gegenwärtigen Vorgänge in den USA, in Frankreich oder in Deutschland zu verstehen. Denn zur Ueberraschung vieler beschränke sich die neue Empörungskultur nicht auf Diktaturen. Vielmehr sei sie auch repräsentativen Demokratien eigen geworden.

Diese Regierungsform stecke in einer tiefgreifenden Krise, ist Binswangers These. Denn Hoffnung auf politische Steuerung der Herrschaft durch Wahl und Abwahl von PolitikerInnen reiche in vielen Sachfragen nicht mehr aus. “Der Bürger möchte die Mandatsträger präziser überwachen, als dies mit periodischen Wahlen möglich ist”, folgert der Autor – eine “Kultur des Misstrauens” skizzierend. Gefragt sei nicht mehr Repräsentation, sondern Partizipation.

Das sei für viele der Moment der Schweiz, stellt Binswanger fest. Es spreche einiges dafür, dass die Schweizer Volksrechte zur Zukunft der Demokratie einen Beitrag leisten würden. Denn bei allen Abstrichen im Einzelfall, unser Land könne im internationalen Vergleich bestehen, weil es die primäre Orientierung am Output durch die Möglichkeit erweitert habe, den Input mitzubestimmen. Das merke auch die EU, die ihre Entscheidungsprozesse durch ein eigenes Initiativrecht erweitern will.

Doch, so Binswanger, das politische System der Schweiz sei nicht frei von ähnlichen Probleme. Zwei Sachen fallen dem Analytiker auf: die Zunahme von Volksinitiativen, positiv bewertet, und Aushölung des Milizsystems, das Negative für den Autor. Ersteres werde durch den neuerlichen Erfolg von Volksbegehren beflügelt, letzteres durch den Personalmangel an der Basis ausgelöst. Zugespitzt könne man sagen, auch hier verdränge die direkte Demokratie die repräsentative.

Zahlreiche dieser Beobachtungen und Folgerungen tauchen auch in meinen Kursen zur gegenwärtigen Politik, zum Zustand der Demokratie und zur Volksherrschaft regelmässig auf. Doch fällt mir eines auf: Journalist Binswanger macht einen riesigen Bogen um das Verhältnis von Medien und Demokratie, zur veränderten Beziehung von Oeffentlichkeit und Institutionen. Genau das ist heute aus keiner Diskussion mehr wegzudenken, seien es so verschiedene Gruppen wie LehrerInnen, PR-Fachleute oder auch PolitikerInnen.

Alle fühlen sich von den Medien abhängig. Die Lehrer können ihr Programm nicht einhalten, weil sie sich mit den Themen in “20 Minuten” befassen müssen. Die OeffentlichkeitsarbeiterInnen beklagen sich, dass ihre Botschaften gar nicht mehr gehört werden. Und die PolitikerInnen fühlen sich von den Medien getrieben.

Diese, nicht die WählerInnen geben die Themen vor, stecken den Rahmen von Lösungen ab und lenken die Meinungsbildung in den Institutionen. Entscheidend sei heute das Bild, die Person, die für etwas steht, nicht mehr aber die Sache selber. Das lenkt die institutionelle Politik von Lösungen ab, führt zum Managament von Impressionen. Meine Gewährleute sagen mir auch, dass die Wut der BürgerInnen von einem politisch-medialen Verbund instrumentalisiert werde, um Empörungen kurz vor Entscheidungen aufleben zu lassen, der inszenierte Protest aber ebenso schnell wieder verschwinde, wenn die Entscheidung einmal gefallen sei. Das alles verstärke den Eindruck der Beliebigkeit und Zufälligkeit der Politik, ja, es erzeugt oder verstärkt jedenfalls die Kultur des Misstrauens. Auch in unserer Demokratie.

Schade, dass ein so kritischer Zeitgenosse wie Daniel Binswanger diese selbstkritischen Reflexionen in seinem Essay nicht miteinbezieht, um so, Nähe zur Sache, aber auch Unparteilichkeit in der Analyse zu erlangen, wie es der im Artikel mehrfach zitierte Pariser Politologe Pierre Rosanvallon eigentlich vom Analytiker einfordert.

Claude Longchamp